====== Balconing ====== Daheim muss man wohl bewandert sein. Wer bleibt daheim, stösst nicht die Schuhe und bricht kein Bein. Was einer daheim hat, das braucht er nicht aussen zu suchen. Deutsches Sprichwörter-Lexicon, Karl Friedrich Wilhelm Wander Obgleich sich die Masse der Reisebewegungen seit Jahrzehnten bis zur Corona-Pandemie von Rekord zu Rekord steigerte, verlor das //Reisen-an-sich// seinen Wert und wurde mit fortschreitender [[wiki:globalisierung|Globalisierung]] zum Qualifikationsmerkmal für Ausbildung und Beruf (Erasmus-Programm seit **1987**) reduziert. Die massenhaften Reisebewegungen weltweit sind nicht einer immer unbändigeren Reiselust zu verdanken, sondern in erster Linie der weltweiten Ökonomie geschuldet, denn: - Der //[[wiki:tourist|Tourismus]]// dient der Erholung von der Arbeit. - //[[wiki:Multilokales Leben|Multilokales Leben]]// verteilt die Arbeit auf weit voneinander entfernte Lebensmittelpunkte. - //Mobile [[wiki:freizeit|Freizeit]]gestaltung// dient der Selbstoptimierung im Erwerbsleben und degradiert das Reiseziel zum Hintergrund für Selfies. * ''Groebner, Valentin''\\ //Ferienmüde. Als das Reisen nicht mehr geholfen hat.//\\ 150 S. Konstanz 2020: University Press. [[https://d-nb.info/1209566001/04|Inhalt]] * ''Harriet Köhler''\\ //Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben.//\\ 208 S. München 2019: Piper. [[https://d-nb.info/1182926657/04|Inhalt]] * ''Koos, Leonard R.''\\ //The Adventure of Staying Home in Xavier de Maistre's Voyage autour de ma chambre.//\\ Romance Notes 41.3 (2001) 291−299. * ''Waitt, G.'', ''Macquarie, P.''\\ //Travel-as-homemaking.//\\ S. 53-71 in G. Lean, R. Staiff & E. Waterton (Hg.): Travel and Imagination. Farnham, United Kingdom 2014: Ashgate [[https://ro.uow.edu.au/sspapers/1434/|Online]] ==== Balkonisierung statt Globalisierung ==== There is nothing to look at any more Everything is seeing to death D.H. Lawrence (1885–1930), englischer Schriftsteller Tourists (Complete Poems 1977, 660) In not-looking, and in not-seeing comes a new strength and undenieable new gods share their life with us, when we cease to see Travel is over (Complete Poems 1977, 662) Die Bedeutung des Reisens für den Einzelnen scheint in den frühen 1990er Jahren ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Dabei löste das Ende des Kalten Krieges und die nachfolgende Öffnung der Grenzen **1989** zunächst einen Reiseboom in beide Richtungen aus, doch nehmen seither die dämpfend wirkenden Kräfte zu: * »Nine eleven«: Die **Terroranschläge** vom 11. September **2001** wirkten mehrfach: * sie verstärkten die Angst vorm Fliegen; * sie lösten weltweit Reisebeschränkungen aus, die dauerhaft blieben wie etwa die rigiden Einreisebestimmungen in die USA; Behinderungen für [[wiki:overlander|Overlander]] durch Visabestimmungen; maschinenlesbare Reisedokumente mit biometrischen Merkmalen; * **[[wiki:entfuehrung|Entführungen]]** von Reisenden im islamischen Raum zwischen Indonesien und der Sahara verdreifachten sich zwischen **1998** und 2008 und schreckten vom Reisen dorthin ab. * Ab Dezember 2010 begann mit der **Arabellion** wird eine Serie gewaltsamer Unruhen zwischen Marokko und Irak; in Jemen und in Syrien begannen die anhaltenden Bürgerkriege. * **[[wiki:overtourism|Overtourism]]** lässt ehedem attraktive Reiseziele für viele abschreckend wirken und vermittelt das Gefühl, dort unerwünscht zu sein; * **2019:** »**Flugscham**« wegen klimaschädlicher Folgen mancher Reiseformen (Flugzeug, Verbrennungsmotoren) führt zu einem Rechtfertigungsdruck innerhalb mancher Gruppen; * **2020:** die **Corona-Pandemie** führt ab 2020 zu erheblichen Einschränkunegn der Reisemöglichkeiten, siehe [[wiki:coronaconform|coronaconformes Reisen]]; * **2022:** der **Überfall Russlands** auf die Ukraine beeinflusst die Reisemöglichkeiten in Russland und allen angrenzenden Ländern zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Pazifik. * Siehe auch die Liste der Reiseberichte über [[wiki:Bad Trips|Bad Trips]] ==== Balconing als Vermeidungsstrategie ==== //Balconing// vermeidet die typischen Konflikte von [[wiki:reisende|Reisenden]]: * [[wiki:angst|Angst]] vor [[wiki:gefahr|Gefahren]] * nicht als [[wiki:einzelne|Einzelner]], sondern als [[wiki:tourist|Tourist]] zu erscheinen * [[wiki:fremdes|Fremdem]] zu begegnen * [[wiki:neugier|Neues]] [[wiki:wahrnehmung|wahrzunehmen]] und Ungewohntes zu bewältigen * [[wiki:overtourism|Overtourism]]: selbst als [[wiki:der_fremde|Fremder]] abgelehnt zu werden * der [[wiki:sprachen|Sprache]] nicht mächtig zu sein Möglicherweise sind im Zusammenhang damit Phänomene zu erklären, die in neuerer Zeit vermehrt als immobile //Weniger-Reisen-Reisestile// begegnen, hier [[wiki:balconing |balconing]] genannt. Die »Heimreisenden« bleiben auf den //Dahamas// (österreichisch) oder in //Bad Meingarten// und genießen das //Hygge//-Gefühl (dänisch) in Indoornesien, Balkongo, Flurganda und Verandalusien. ==== Nicht-Reisen als Wert ==== Seit den 1990er Jahren erscheint [[wiki:balkonien|Balkonien]] zunehmend als selbstgewählte Alternative zum Reisen, dieses Mal jedoch nicht aus Unvermögen wie in den 1920/30er Jahren als `Balkonien´ zuerst beshrieben wurde, sondern zunächst aus einem Überdruss an »fernen Gefilden«, der die Faszination des Reisens ([[wiki:philobatie|Philobatie]]) dämpft, dann weil das Reisen im Kampf der Distinktionsmerkmale zunehmend altmodisch erscheint und zunehmend auch aus einer ideologischen Ablehnung des Reisens selbst. ''Wolf Schneider'' und ''Christoph Fasel'' polemisierten bereits 1995 in ihrem Buch //Wie man die Welt rettet und sich dabei amüsiert//, dass nur eine Gesellschaft aus [[wiki:stubenhocker|Stubenhockern]] die [[wiki:welt|Welt]] retten könne, weil deren Ressourcenverbrauch sich auf Kühlschrank und Fernseher beschränkte. Dieser Lebensstil ([[wiki:fff|FFF]]) wird seit Anfang der 1980er Jahre als [[wiki:Cocooning |Cocooning]] bezeichnet. Heute führt er in direkter Linie zum [[wiki:real_life_oder_virtual_reality|Internet-Autisten]], der in einer Filterblase voller [[wiki:illusionen|Illusionen]] abtaucht und mittels rauchendem Datenstrom über Rechenzentren die Welt anheizt. Die glaubhaftesten [[wiki:held|Helden]] in [[wiki:road_movie|Road-Movies]] sind solche, die gar [[wiki:road_movie#Der Protagonist als Nicht-Reisender|nicht reisen wollen]]. Weil sie in den Konflikt zwischen Innenwelt und Außenwelt geraten, beobachten wir auf der Leinwand, wie die Persönlichkeit des `Helden´ [[wiki:road_movie#Unterwegs-Sein als »Stretching« der Persönlichkeit|unterwegs gestretcht]] wird: die Schale der //couch potatoe// bekommt Risse. Das kann spannend sein und unterhaltsam, zeigt Himmel und Hölle der Landstraße, lässt den [[wiki:reisende|Reisenden]] wachsen oder zerbrechen. ==== Formen des pseudomobilen Daheimbleibens ==== Die Biedermaierzeit des 21. Jahrhunderts erscheint durch den Rückzug ins Vertraute oder gar in abgeschlossene Räume ein pseudomobiles [[wiki:daheimbleiben|Daheimbleiben]], etwa wenn der Lebensmittelpunkt nur in ein angenehmeres Umfeld verlegt, jedoch im Übrigen beibehalten wird. Solcher Trieb des Daheimbleibens verbindet balconing offensichtlich mit [[wiki:heimarbeit|Heimarbeit]] (home office) und auf den zweiten Blick auch mit [[wiki:arbeitsnomaden|Arbeitsnomaden]] (digital nomads). → Liste der [[wiki:liste_weniger-reisen-reisestile|Weniger-Reisen-Reisestile]] Neu sind solche Erscheinungen nicht. Bereits das christliche Denken des Mittelalters (nicht das urchristliche!) lehnte die [[wiki:currendi_libido|currendi libido]] ab; manch einem galt das Laufen als »böse, ansteckende Krankheit« ((Real-Enzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche: 17. Band: Westphal bis Zwingli, Nachträge: Abbot bis Hamberger, S. 186: Dorsten)). Die [[wiki:neugier|Neugier]] galt als Laster und als eitel galt, wer stolz seine Erlebnisse und Erfahrungen vortrug. Stattdessen galt die [[wiki:stabilitas_loci|stabilitas loci]] als erste Regel in vielen Klöstern.