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wiki:der_fahrende_haendler

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Fahrende Händler

Mango und Coctio im europäischen Mittelalter

Im Jahr 789 stellte Karl der Große in Aachen eine Urkunde aus 1), einem Ansinnen des Papstes Hadrian von 774 folgend, mit einem Gesetz die „vagabundi“ (siehe auch stabilitas loci) betreffend, namentlich:
„Die Betrüger, welche Mangones (…) und Cotiones (…) heißen, sollen nicht mehr frei umherschweifen dürfen; ebenso auch nicht jene Nackten mit Ketten [nudi cum ferro], welche vorgeben, sie müssten zur Buße umherziehen. Haben sie ein schweres Vergehen begangen, so sollen sie an einem Orte bleiben und dort Buße thun.“ 2).
Es ist dies die wohl älteste urkundliche Erwähnung fahrender Händler in diesem Teil Europas im Mittelalter. Welche Gruppe damit genau gemeint sein könnte, hat Leo Wiener 3) in einem sprachgeschichtlichen Quellenvergleich untersucht:

  • Die meisten mittelalterlichen Bezeichnungen für den fahrenden Händler auch über den romanischen Sprachraum hinaus lassen sich auf „cocio“ zurückführen. Dessen Hauptmarkt war der Handel mit Pferden im Katalanischen, Provençalischen, Italienischen, Französischen, Englischen, Deutschen. Dabei werden gegnerische Pferdemänner und räuberische Pferdehändler in einen Topf geworfen: „in ipsas villas, in quibus non solum homines caballarii, sed etiam ipsi cocciones rapinas faciunt“ 4).
  • Mangones sind den Cotiones weitgehend bedeutungsgleich, der Begriff betont jedoch die betrügerische Absicht beim Verkauf eines Pferdes.
  • Nudi cum ferro bezieht sich 845 in einer Abschrift des o.g. Gesetzes ausdrücklich auf die beiden ersten Gruppen 5) und beschreibt bemerkenswerte Äußerlichkeiten, wobei nudi mit `sündhaft´ verbunden ist.

Leo Wiener argumentiert, dass mangones, cotiones und nudi cum ferro in dieser Urkunde nur drei verschiedene Zuschreibungen für dieselbe Gruppe seien, die als Schmiede und Pferdehändler durch die Lande ziehen. Das Gesetz Karls des Großen richtet sich also gegen solche, die mit der Absicht unterwegs sind, andere zu ihrem Vorteil zu täuschen im Unterschied zu echten Pilgern und wandernden Klerikern (De vagis peregrinis 809), für die andere Regeln gelten: qui propter Deum non vadunt 6). Nun gab es aber auch im germanischen Sprachraum Wanderschmiede (Wieland), verrufene Pferdehändler (Rosstäuscher) und fahrende Händler (Höker). Auch die Begriffe Mango und Coctio verbreiteten sich im germanischen Raum und meinten noch in der Neuzeit alle Formen fahrender Händler.

Daher muss die Formulierung nudi cum ferro (wörtlich: `Nackte mit Eisen´) etwas Spezifisches enthalten, dass diese Gruppe von anderen unterschied.

  1. „Nudi“ meint im Mittelalter jedoch nicht `völlig nackt´ (plane nudus 7) ), sondern ein Erscheinungsbild, das nicht den Gepflogenheiten und Anlässen entsprach (auch ein Ritter ohne Waffen galt als nudi): „In den Quellen sind ‚nackt‘ und ‚im Hemd‘ problemlos austauschbar.“ 8).
    Leo Wiener zieht nun zwei andere Textstellen heran, in denen coctio beschrieben werden als coctio derasus [kahl rasiert] sowie als nur mit Hemd und kurzer Hose bekleidet 9). Nach Leo Wiener könnten damit Zigeuner gemeint sein.
  2. „cum ferro“ (wörtlich: `mit Eisen´) wird nicht erklärt, oft zitiert 10) und verschieden gedeutet, etwa als Bussgang mit Ketten und Ringen 11). Da die nudi cum ferro jedoch audrücklich als identisch mit den mango und coctio bezeichnet werden, ließe sich dies als Wanderschmied oder Hufschmied deuten, was bei Pferdehändlern nahe liegt. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang mit der Einführung genagelter Hufeisen (lat. ferripedo), welche 910 erstmals erwähnt werden 12). Archäologisch finden sich genagelte Hufeisen vereinzelt ab dem 6. Jahrhundert und sind bis zum 10. Jahrhundert weit verbreitet 13).

→ Liste von Bezeichnungen für Fahrende Händler
→ Liste von Fernhandelsnetzwerken
→ Liste von Trägern

Ausbreitung von Religionen entlang älterer Handelswege

  • Giotto Dainelli
    Missionari e mercadanti rivelatori dell'Asia nel medio evo.
    (=Conquista della terra; esploratori e esplorazioni, 5) VI, 387 S. Ill., Karten. Torino 1960: Unione Tip.-Ed.
  • Koschorke, K.
    Altchristliche Ausbreitung entlang antiker Handelswege. Über die Anfänge des Christentums in Indien und China, die globalen Reiseaktivitäten des Apostel Thomas und ihre Relevanz für die außereuropäische Christentumsgeschichte.
    S. 151−162 in: Jördens, A. et al. (Hg.): Quaerite faciem eius semper. Studien zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum, Dankesgabe für Albrecht Dihle zum 85. Geburtstag aus dem Heidelberger „Kirchenväterkolloquium“, (=Studien zur Kirchengeschichte, 8) Hamburg 2008. Online
    Enthält zahlreiche weiterführende Quellen.
  • Silverstein, Adam J.
    From Markets to Marvels: Jews on the Maritime route to China ca. 850-ca. 950 CE.
    Journal of Jewish Studies 58 (2007) 91–104. Online
    Der Autor bezieht sich auf den „Reisebericht“ des Eldad ha-Dānī (=Eldad der Daniter), der als jüdischer reisender Händler um 880 in Nordafrika und Spanien nachgewiesen ist und in seinen hinterlassenen Schriften beschreibt, wie er als Schiffbrüchiger in Äthiopien landet, als Gefangener nach China gebracht kommt und schließlich über Persien, Armenien und das Zweistromland heimkehrt.
  • Annette L. Juliano, Judith A. Lerner (Hg.)
    Nomads, traders and holy men along China's silk road.
    (= Silk Road Studies, 7) Tagungsband. 125 S. Turnhout 2002: Brepols.
  • Jason Emmanuel Neelis
    Long-distance trade and the transmission of Buddhism through Northern Pakistan, primarily based on Kharoṣṭhī and Brāhmī Inscriptions .
    XIII, 599 S. PhD Diss., University of Washington 2001. UMI Dissertation services, Ann Arbor, Mich, 2001.
    Die Dissertation geht aus von „Zürcher’s model of long-distance transmission through transit zones and Liu’s theory of the saptaratna“
  • Jason Emmanuel Neelis
    La Vieille Route Reconsidered: Alternative Paths for Early Transmission of Buddhism beyond the Borderlands of South Asia.
    Bulletin of the Asia Institute 16 (2006) 143–64. Online. Der Titel ziert das Werk von A. Foucher und E. Bazin-Foucher (La vieille route de l'Inde de Bactres à Taxila, Paris 1942-47: Les Éditions d'art et d'histoire).
  • Jason Emmanuel Neelis
    Early Buddhist Transmission and Trade Networks: Mobility and Exchange within and beyond the Northwestern Borderlands of South Asia.
    (= Dynamics in the History of Religions, 2). Leiden 2011: Brill. Inhalt u.a.:
    Road Map for Travelers; Models for the Movement of Buddhism; Merit, Merchants, and the Buddhist Sangha … Cross-Cultural Transmission in Northwestern Contact Zones; Saka Migrants and Mediators between Central Asia and South Asia … Trade Networks in Ancient South Asia ; Northern Route (Uttarapatha) ; Southern Route (Daksinapatha) ; Seaports and Maritime Routes across the Indian Ocean; Old Roads in the Northwestern Borderlands… Routes of Buddhist Missionaries and Pilgrims to and from Gandhara … Capillary Routes of the Upper Indus … Long-Distance Transmission to Central Asian Silk Routes and China; Silk Routes of Eastern Central Asia
  • Warmuth, V.M., Campana, M.G., Eriksson, A., Bower, M., Barker, G. and Manica, A.
    Ancient trade routes shaped the genetic structure of horses in eastern Eurasia.
    Molecular Ecology, 22 (2013) 5340-5351. DOI

Literatur und Verweise

→ Literaturliste Handel, Transport und Fahrende Händler in vorgeschichtlicher Zeit, in antiker Zeit, im Mittelalter und in der Neuzeit
→ Ausstellungsliste Handel & Waren
→ Ausstellungsliste Kolonien
→ Ausstellungsliste Reisen in den Osten
→ Zeitleiste Der Seeweg nach Indien nach 1500
→ Listen von Figuren
→ Zeitleiste beispielhafter Figuren

1)
MGH Leg., Sect. II, S. 60-61
2)
Hefele, Carl Joseph, Alois Knöpfler, Joseph Adam Gustav Hergenröther. 1877. Conciliengeschichte. Bd. 3 Bd. 3. Freiburg i. Br: Herder. S. 670: „Item ut isti mangones et cotiones qui sine omni lege vagabundi vadunt per istam terrain, non sinantur vagare et deceptiones hominibus agere, nee isti nudi cum ferro, qui dicunt se data sibi poenitentia ire vagantes : melius videtur, ut si aliquid inconsuetum et capitale crimen conmiserint, ut in uno loco permaneant laborantes et servientes et paenitentiam agentes secundum quod sibi canonice inpositum sit.“
3)
Leo Wiener
Gypsies as fortune-tellers and as blacksmiths.
Journal of the Gypsy Lore Society Edinburgh in 3 Teilen: Bd. 3: Januar 1909, Juli 1909, 4-17, April 1910, 253-276. auch: Reprint Liverpool. Online
4)
Hinkmar von Reims (800 bis 882) an Karl den Kahlen zit. nach Leo Wiener
5)
„qui nudi cum ferro dicunt“
6)
Dieselbe Urkunde wird mit weiteren Quellen verglichen von: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das deutsche Gaunerthum : in seiner social-politischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande. 1858-62 Leipzig, F.A. Brockhaus/Reprint 1980. Band 1, S. 43
7)
Robert Jütte, Der anstößige Körper. Anmerkungen zu einer Semiotik der Nacktheit, in: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hrsg. v. Klaus Schreiner/Norbert Schnitzler, München 1992, S. 109–129, hier: S. 115
8)
Jean-Claude Bologne: Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls. VII, 480 S. Weimar 2001: Hermann Böhlaus Nachfolger, S. 161;
Buschinger, Danielle: Le «nu» dans quelques textes médiévaux allemands. S. 75-86 in: Le nu et le vêtu au Moyen Âge; Aix-en-Provence : Presses universitaires de Provence, 2001 DOI.
Nudi ist mehr als „barfuß“ (nudis pedibus) oder „beinfrei“ (nudo femore), s. 407 Anm. 67 u.a. in: Bießenecker, Stefan. 2008. „Und sie erkannten, dass sie nackt waren“ Nacktheit im Mittelalter. Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 3. & 4. November 2006. Bamberg Univ. of Bamberg Press 2008 Online
9)
Responsumque accipiens, quia cuidam coctio derasus [kahl rasiert], insulsus et insaniens, linea tantum et femoralibus indutus, se absque mora postularet alloqui. zit. nach Wiener S. 269
Ebenso S. 9f. zum Stichwort `Gaukler´ in: Ersch, Johann Samuel, Johann Gottfried Gruber. 1852. Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste Band 55, Leipzig: Gleditsch
10)
Ut mangones et cociones et nudi homines, qui cum ferro vadunt non sinantur vagari. siehe: „cocio“, Mittellateinisches Wörterbuch
11)
Gregorovius, Ferdinand. 1876. Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter vom fünften Jahrhundert bis zum sechszehnten Jahrhundert Band 3. Stuttgart: Cotta. S. 80
12)
Clark, Bracy (1831). An essay on the knowledge of the ancients respecting the art of shoeing the horse, and of the probable period of the commencement of this art. 36, [4] S., [2] Tafeln, hier S. 33
13)
Martini, Simone Mittelalterliche und neuzeitliche Hufeisen im Rheinischen Landesmuseum Trier. Funde und Ausgrabungen im Bezirk Trier : Aus der Arbeit des Rheinischen Landesmuseums Trier. 42 (2010), 70-90)
wiki/der_fahrende_haendler.1723612194.txt.gz · Zuletzt geändert: 2024/08/14 05:09 von norbert

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