====== Reisesegen ====== Ein Segen (lat. Signum 'Zeichen', engl. Journey charm, blessing ) soll überirdisches Heil übertragen und in bedrohlichen Situationen helfen. Den vertrauten Raum zu verlassen und im Zwischenraum unterwegs zu sein bedeutet sich in Gefahr zu begeben, der Segen wurde entsprechend angepasst: pro iter agentibus, pro navigantibus, pro peregrinantibus. Reisesegen zeigen Wurzeln bei christlichen Heiligen ([[wiki:Zeitleiste Patrone unterwegs|Patrone]]) in den Gebeten irischer Wandermönche (loricae), im Alten Testament (Tobias), im heidnischen Glauben ([[wiki:reisegoetter|Reisegötter]]) und im [[wiki:aberglaube|Aberglauben]]. Allerdings führt auch der Glaube die Menschen in den Zwischenraum, etwa bei [[wiki:pilger|Pilger]]- und Wallfahrten, zu heiligen Bergen und heiligen Orten, zu Orakeln und Wunderstätten. Reisesegen gehören heute zur christlichen Kirche ((''Knitter, J.'': //Dein Segen leuchtet. Reisesegen-Gottesdienste//. Gütersloh 2008.\\ ''Magdalene L. Frettlöh''\\ //Der denkbar größte Reisesegen. Gen 12,1–4 17.7.2022 5. Sonntag nach Trinitatis.//\\ In: Göttinger Predigtmeditationen 6.3 (2022 ) 376-385.\\ ''Groen, Bert''\\ //Streifzüge und Reisesegen. Liturgische, ökumenische und interkulturelle Perspektiven.//\\ Abschiedsvorlesung 6. November 2018 Graz 2018: Verlag der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Graz. [[https://d-nb.info/117299322X/04|Inhalt]] )), werden jedoch überall dort praktiziert, wo sich Menschen in ein [[wiki:unterwegs-sein|Unterwegs-Sein]] verabschieden und mit guten Wünschen verabschiedet werden: //"Ich wünsche Dir ... auf allen Deinen Wegen."// Dabei kommt es auf die Perspektive an: * Der //Ausfahrtsegen// ist meist in der Ich-Form verfasst und wurde vom Gehenden gesprochen (//Münchner Ausfahrtsegen//). Gemeint ist damit ein morgendliches Gebet, das sich auf das beginnende Tagewerk bezieht, also in der Regel keine Reise meint. * Der //Reisesegen// ist dagegen ein symbolisches [[wiki:geleitswesen|Geleit]], in der Du-Form formuliert und dem Gehenden mitgegeben, ist von Gesten begleitet (schützende Hand, Kreuzzeichen) und möglichen symbolischen Gaben (Amulett, Glücksbringer, Kreuz, [[wiki:christophorus|Christophorus]]-Medaille ...). * Segenssprüche aus dem 8. Jahrhundert vor Christus lassen neben dem Schutz des Individuums im Alltag auch den Bereich //Kampf und Krieg// erkennen. ((''Müller, H.-P.''\\ // Kolloquialsprache und Volksreligion in den Inschriften von Kuntillet ‘Aǧrūd und Chirbet el-Qōm//.\\ ZAH 5, 1992, 15-51 sowie ''Martin Leuenberger'': [[https://bibelwissenschaft.de/stichwort/27583/|Segen / Segnen (AT)]] )) "Bedeutungsvoll im germanischen Heidenthum" ((Grimm, Deutsches Wörterbuch)) sollte der Reisesegen als Reiseschutzzauber helfen, über Feinde zu siegen, etwa indem deren Waffen stumpf werden sollten und die eigenen scharf oder indem ein symbolischer Schutz erfleht wurde (Friedhemd, Siegring, Sieggürtel): //»ich dir nâch sihe ich dir nâch sende mit mînen vünv vingeren / vünve unde vünvzic engele got dich gesunde heim dich gesende« ... // So beginnt der //Weingartner Reisesegen//, mit dem //Tobiassegen// einer der beiden ältesten althochdeutschen Zeugnisse. * ''Friedrich Hälsig''\\ //Der Zauberspruch bei den Germanen bis um die Mitte des [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 16. Jahrhundert|XVI. Jahrhundert]].//\\ XI, 110 S. Diss. Universität Leipzig 1910: Seele. hier: S. 4, 49 * ''Haeseli, Christa M.''\\ //Magische Performativität. Althochdeutsche Zaubersprüche in ihrem Überlieferungskontext.//\\ Dissertation 255 S. Würzburg 2011: Königshausen & Neumann. [[https://d-nb.info/1009741101/04 |Inhalt]] * ''Hoffmann-Krayer, E.''\\ //Zum Eingang des Weingartner Reisesegens.//\\ 8 (1904-1905) 65, hier: S. 113 f. [[https://doi.org/10.5169/seals-110561|DOI ]]\\ Der dort zitierte Liebessegen der "Stammlerin" (Sie wurde als Hexe verbrannt) zeigt Parallelen zum Weingartner Reisesegen (//Ich sieh dir nâch und sende dir nâch ...//). * ''Stuart, Heather''\\ //'Ic me on þisse gyrde beluce': the Structure and Meaning of the Old English" Journey Charm.//\\ Medium Ævum 50.2 (1981): 259-273. [[https://www.jstor.org/stable/43628610|Online]] * ''Batten, Caroline R.''\\ //hand over head: a possible reference to the old english metrical psalms in the ‘journey charm.’//\\ Medium Ævum, 90.1 (2021) 143–48. [[https://doi.org/10.2307/27089832|Online]] * ''Karel Felix Fraaije''\\ //Magical Verse from Early Medieval England: The Metrical Charms in Context.//\\ 499 S. Diss. 2020 University College London. [[https://discovery.ucl.ac.uk/id/eprint/10132535/7/Karel%20Fraaije%20-%20Magical%20Verse%20from%20Early%20Medieval%20England%20PhD%20Thesis%20Deposited.pdf|Online]]\\ Fraaije vergleicht gründlich die Fassungen und Deutungen des Journey Charms, diskutiert insbesondere den Begriff //gyrd// (Walking Canes and Protective Girdles: gyrd and sigegyrd) und interpretiert den Text als //Lorica//. Loricae sind ursprünglich Brustpanzer. Der Begriff wurde auf frühmittelalterliche Schutzgebete übertragen, die wahrscheinlich durch die irischen [[wiki:wandermoench#Die irischen Wandermönche|Wandermönch]] verbreitet wurden. Möglicherweise spiegelt sich darin das //armaturam Dei// (Epheser 6,11–18). Ein ehrenvoller Abschied setzte im Mittelalter //Urloup// voraus, also die Erlaubnis sich zu entfernen (lat. übersetzt als licentia, permissus, venia). Dies ist eine [[wiki:freiheit|Freiheit]], die zwar von anderen gewährt wird, setzt jedoch eine Freiheit voraus, die man sich nimmt. Diese „möglichkeit, nach belieben zu verfahren“ kann auch missbraucht werden ((//"nun ist es aber schwer in groszem gewalt und urlaub, on straff sich selbs im zaun halten"// ''Sebastian Franck'' 1499-1542, urlaub, m., Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, [[https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=U14291 |Online]] )) Mittelalterliche Reisesegen zielen daher auf das Erringen von [[wiki:ehre|Ehre]] im Kreise Anderer und nicht auf die Singularität [[wiki:einzelne|Einzelner]]. * ''Herkommer, Hubert''\\ //Urloup nemen: Abschiede im Mittelalter.//\\ S. 347-389 in: Edgar Bierende, Sven Bretfeld und Klaus Oschema (Hg.): Riten, Gesten, Zeremonien. (=Trends in Medieval Philology, 14) Berlin–New York 2008. [[https://doi.org/10.1515/9783110210897.5.347|DOI]] * ''Puszcz, Teodor''\\ //Das liturgische Gebet für Reisende und Pilger sowie Seefahrer. Ein Überblick bis zur Tridentinischen Liturgiereform.//\\ (= Ästhetik – Theologie – Liturgik, 71). Berlin 2019: LIT. Im christlichen Mittelalter zielte der [[https://handschriftencensus.de/1994|Weingartner Reisesegen]] primär auf den Schutz vor [[wiki:gefahr|Gefahren]] und Unglück unterwegs; Waffen und Rüstung werden nur noch allegorisch benannt. * ''Hugo Moser''\\ //Vom Weingartner Reisesegen zu Walthers Ausfahrtsegen. Gereimte Gebetssegen des frühen und hohen Mittelalters//\\ Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur PBB, 82 (1961) 69 [[https://doi.org/10.1515/bgsl.1961.82.s1.69|DOI]] (("Alle diese Segen bedürften einer gründlichen Bearbeitung, die auch das Spätmittelalter umfassen müßte." - Dieser Wunsch des Autors hat sich bisher nicht erfüllt.\\ Die gereimten Segen siehe in Müllenhoffs und Scherers Denkmälern altdeutscher Poesie abgedruckt (I S. 18 f., S. 182 ff.; II S. 281 ff.), die Prosasegen in F. Wilhelm, Denkmäler deutscher Poesie und Prosa des 11. und 12. Jhdts., Neudruck 1960 (I S. 76 f., 93 f.;II S. 168 ff., 180 ff.)) * //Weingartner Reisesegen Ic dir nach sihe//\\ ''Hans-Hugo Steinhoff'' in: Verfasserlexikon 10 (1999) Sp. 818f. Der //Tobiassegen// bezieht sich auf die biblische Erzählung über den Abschied des Tobias, dem sein Vater den Segen zum Abschied erteilte (Tobias 5,23) und den der Erzengel ''Raphael'' und ein Hund begleiteten. In diesem Segen werden auch die Gefahren für die Seele einbezogen. Tobias wurde so zum Patron der Reisenden.\\ Ein anderer Patron der Reisenden, [[wiki:christophorus|Christophorus]], wurde ursprünglich hundeköpfig dargestellt und zeigt den Menschen in der Wildnis als ein Wesen, das selbst ursprünglich wild war ([[wiki:der_wilde_mann|Wilder Mann]]); die Christophorusplakette soll Reisende schützen.\\ Alle Reisesegen zeigen eine handlungsorientierte (weltliche) Perspektive, indem sie den Zeitraum zwischen Aufbruch und Heimkehr handfest schützen sollen. * ''Johann Christoph Beer''\\ //Der Geistliche Reiß-Gefert/ Dast ist … tägliches Gebet- und Gesangbüchlein ..//\\ Nürnberg 1670: Hoffmann (VD 17 [[https://kxp.k10plus.de/DB=1.28/CMD?MATCFILTER=N&MATCSET=N&NOSCAN=N&IKT0=&TRM0=&ACT3=*&IKT3=8183&ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&ADI_BIB=&TRM=23:659637F&REC=*&TRM3=&COOKIE=U999,K999,D1.28,E15a8cbad-2,I0,B9994++++++,SY,QDEF,A,H12,,73,,76-78,,88-90,NGAST,R93.210.232.149,FN|23:659637F]])\\ Das Titelkupfer zeigt Reisedarstellungen: //„Gott schickt seine Engelscharen Wandersleuthen zu bewahren IN vielen tausend Angstgefahren.“// * ''Philipp Ehrenreich Wider''\\ //Evangelische Reise- u. Sprüchwörter-Postill. …//\\ Nürnberg 1673: Joh. Andreä Endters seel. Sohn und Erben.\\ Das Titelkupfer zeigt oben Wanderer und unten Reisende in der Kutsche: "Engel leitet Wanderer und Jakobsleiter". Aus diesen Vorbildern heraus entstand der kanonisierte Pilgersegen mit festem Ritus, wie er zuerst um 780 im Sakramentar von Gellone urkundlich belegt ist. Dabei wurden Dinge übergeben, etwa Pilgerbrief, Pilgertasche, [[wiki:pilgerstab|Pilgerstab]]. * ''Dieter Eissing''\\ //Der Pilgersegen.//\\ In: Andreas Heinz, Heinrich Rennings: Heute segnen. Werkbuch zum Benediktionale. Freiburg-Basel-Wien 1987, S. 308–316, auch zum Sakramentar von Gellone * ''Petke, Wolfgang''\\ //Der rechte Pilger: Pilgersegen und Pilgerbief im späten Mittelalter.//\\ S. 323-360 in: Aufsätze zur Pfarreigeschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2021: V&R unipress Der heilige ''Hieronymus'' legte im 4. Jahrhundert ''Maria'' den Beinamen //Maris Stella// zu, Meeresstern im übertragenen Sinne eine [[wiki:orientierung|Orientierung]]shilfe als Stern im Lebensmeer. Der Marienhymnus //Ave Maris Stella//, den Abt ''Ambrosius Autpertus'' im 8. Jahrhundert verfasste, wurde seither von in christlichen Kreisen als Segen zum Abschied und Aufbruch gesungen, bis in die Gegegnwart insbesondere beim Entsenden von Missionaren. Die Missionsbenediktiner haben sich das Motto //Lumen Caecis// 'Licht den Blinden' zugelegt, ein Zitat aus //Ave Maris Stella//. * Katholische Seemannsmission [[https://www.stella-maris.de/patronat/namensherkunft/|Stella Maris]] * ''Hermann auf der Heide''\\ //Die Missionsgesellschaft von Steyl. Ein Bild der ersten 25 Jahre ihres Bestehens//\\ Jubiläumsgabe zum 8. September 1900. Steyl 1900: Verlag der Missionsdruckerei, hier S. 382 * ''Walter Helmes''\\ // Kreuz und Schwert im Kampfe gegen Sklaverei und Heidentum//\\ Missions- und Unterhaltungsblatt für das katholische Volk, besonders für die Mitglieder des Afrika-Vereins deutscher Katholiken. Meppen 1894: Kreuz und Schwert. hier S. 114 * → Ausstellung 1993 [[wiki:ausstellungsliste_mission_glaube_kirche|Hermann Gundert]], S. 212 **Jüdische Vorschriften für unterwegs** * ''Rabbiner Schelomo Ganzfried''\\ //Kizzur Schulchan Aruch.// [=Ḳitsur Shulḥan ʿarukh]\\ Deutsche übertragen von Rabbiner Dr. Selig Bamberger in Hamburg. 2 Bände Frankfurt am Main 2016: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg. [[https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/8067009|Online]] \\ ''Rabbi Schelomo Ganzfried'' (1804-1886) aus Ungarn veröffentlichte 1864 dieses Buch, das bis zu seinem Tod in zwölf Auflagen erschien. Darin enthalten sind auch 12 Paragraphen mit religiösen Vorschriften (Band 2, Kap. 68): //Vorschrift für das Gebet der Reise und andere Dinge, auf die man auf der Reise achten muss.//