Wirklichkeit, Wahrnehmung, Wahrheit

Die Tätigkeit vor dem Bildschirm erschafft digitale Welten, 
während der Blick aus dem Fenster auf die zerfallende Wirklichkeit fällt.

Wirklichkeiten lassen sich konstruieren. Wie wirklich ist die Wirklichkeit, fragte Paul Watzlawick 1).

Wahrnehmungen haben dagegen eine andere, eine anthropozentrische Dimension. Etwas für wahr nehmen impliziert, die Wahl zu haben, es annehmen oder auch ablehnen zu können - Das will ich nicht wahr haben - aber auch, sich *Illusionen machen dürfen.

Wahrnehmung entsteht über Sinneseindrücke. In einer Welt der Blinden oder der Gehörlosen wird die Welt anders wahrgenommen, die Eindrücke eines ganzen Sinnes fehlen. Wo es keine Sinneseindrücke über die Augen gibt, werden auch keine Begriffe dafür belegt. Ein Blinder kann Farben als abstrakte Konstruktion verstehen, aber ihm fehlt die Vorstellung. Eine Verständigung über Sinneseindrücke setzt ein gemeinsames Verständnis jedoch voraus. Darin liegt die soziale Dimension von Wahrnehmung.

Wahr ist auch nur das, was allgemein als wahr anerkannt wird. Im allgemeinen wird als wahr anerkannt, was nützlich ist. Nützlich ist, was hilft, in der Welt zu überleben.

Davon abweichende individuelle Wirklichkeiten werden allgemein akzeptiert, wenn sie die allgemein anerkannten Wirklichkeiten nicht stören. Ihren nützlichen Wert erweisen sie als Probehandeln, also als Experiment oder Abenteuer. Im Unterschied zur anerkannten Wirklichkeit (Wissen) ist ihre Grundlage der Glaube.

Im Alltag nützlich ist eine »Standardeinstellung« der Wahrnehmung, weil Denkfaulheit das Leben in vorgezeichneten Bahnen vereinfacht. David Foster Wallace hat in einer berühmten Rede dargelegt 2), wie Menschen ihre Standardeinstellung durchbrechen können, indem sie nämlich:

  1. ihre Wahrnehmung verändern, weil das gewohnte Sehen blind macht für das Offensichtliche (»Kenne ich«)
  2. ihe Überzeugungen lockern, weil sich darin die Arroganz manifestiert (»Weiß ich«)

Die wahre Freiheit verlange nach Aufmerksamkeit, Offenheit, Disziplin, Mühe und Empathie - also nach einem bewussten Lebens, wie es der Buddhismus lehrt. Nichts ist, wie es scheint, denn die Wirklichkeit lässt sich häuten wie eine Zwiebel, die Innenwelt wird zur Außenwelt - oder umgekehrt?

Die Standardeinstellung führt zu einer vernagelten Sichtweise, zu bornierten Einstellungen - sie kennt nichts Neues, Verborgenes und erlaubt kein Staunen. Muster sind vertraut, sie zu verändern erzeugt Angst. Neues ergibt nur Sinn, wenn es in vorhandene Muster passt. Was nicht passt, wird passend gemacht und zack - ist man bei der selektiven Wahrnehmung und blendet Abweichendes aus, will man gar nicht sehen.

Nun kann man aber auch mit Lust an der Veränderung die Wahrnehmungen stören, etwa durch Perspektivwechsel. Perspektiven ändern sich beim Gehen von selbst.

»Ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ging«
meinte Johann Gottfried Seume, 1802 zu Fuss unterwegs nach Syrakus. 
Und auch Michel de Montaigne bekannte: 
»Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze. 
Mein Geist geht nicht voran, wenn ich nicht meine Beine in Bewegung setze.« 
Friedrich Nietzsche ging so weit, »keinem Gedanken Glauben zu schenken, 
der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung«

Wer im Trott ist, ist immerhin unterwegs, doch kann auch mit geschlossenen Augen durchs Leben laufen und dann hilft es nicht, wenn sich außen die Perspektiven verschieben. *Autonomie verlangt nach Aufklärung:

»Aufklärung
ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, 
sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, 
wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes,
sondern der Entschließung und des Mutes liegt, 
sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
>Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!<
ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
Berlinische Monatsschrift 1784, 2, S. 481–494

Auch Kant fand seine Einsichten im Gehen. Und weil er täglich seinen Spaziergang um Königsberg machte und dabei allerhand Menschen aus aller Welt begegnete, befand er es als unnötig die Welt zu bereisen: 3)

»Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia 
der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und 
dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, 
als auch mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten 
einen Verkehr begünstigt, eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, 
kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis 
als auch der Weltkenntnis genommen werden, 
wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.«

Literatur

1)
Wie wirklich ist die Wirklichkeit – Wahn, Täuschung, Verstehen.
Piper, München 1976
Die erfundene Wirklichkeit – Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben?
Piper, München 1981
Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du gern Knoblauch essen – Über das Glück und die Konstruktion der Wirklichkeit.
Piper, München 2006
2)
Das hier ist Wasser / This is Water
Eine Anstiftung zum Denken
Köln KiWi-Taschenbuch 2012 64 S
3)
Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7541 S. 120-121