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wiki:aberglaube

Aberglauben

Was Aberglaube ist oder nicht, ist zum einen eine Frage des eigenen Standpunktes und zum anderen bestimmt durch allgemein vorherrschende Glaubenssysteme. Die Verbindungen zwischen Reisen und Aberglauben wurden 1927 umfassend dargestellt, siehe:

  • Hoffmann-Krayer, E., Bächtold-Stäubli, H.
    Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. (Handwörterbücher zur Deutschen Volkskunde) 10 Bände. Berlin 1927–1942: W. de Gruyter
    • Eintrag „Reise“ in Band 7: Spalte 637-645 Online, nachfolgend wiedergegeben:
    • Das Verzeichnis der Abkürzungen und die Auflösung der Sigel in Band 1:

Der Tag der Abreise ist durch bestimmte abergläubische Regeln festgelegt. Für alle Handlungen, also auch fürs Reisen galt der Karfreitag überall als Unglück bringend 1). Von diesem einen Tag des Jahres ist der Glaube auf jeden Freitag übergegangen 2). Noch heute scheuen sich die Seeleute davor, am Freitag abzufahren 3). Nicht so allgemein wie der Karfreitag werden der Neujahrstag 4) und der Dreifaltigkeitssonntag 5) zum Reiseantritt für ungünstig angesehen. Im Gegensatz zu diesen Tagen, die für alle Menschen dasselbe bedeuten, gilt der Lichtmeßtag 6) nur für den Bienenvater als unglückbringend: wenn er an diesem Tage reist, werden seine Bienen beim Schwärmen fortfliegen. — Was die einzelnen Wochentage betrifft, so ist hier der Aberglaube reichhaltig, aber in jeder Gegend anders. Der Freitag ist, wie gesagt, in den christlichen Ländern am allgemeinsten zum Unglückstag gestempelt worden. Die Muhammedaner halten den Montag für den günstigsten Reisetag, weil viele bedeutende Männer, unter denen auch Muhammed war, an diesem Tage ihre Reise in das Jenseits angetreten haben 7).

Der glückbringende Tag allein bürgt nicht für den glücklichen Verlauf einer Reise. Auch die Gunst der Reisegötter und -geister muß erworben werden. Deshalb steht der Tag des Reiseantritts bei Griechen und Römern 8), Indern 9) und Muhammedanern 10), bei den Deutschen und bei wilden Volksstämmen 11) unter dem Zeichen des Gebets und Opfers. Wenn heute der deutsche Fuhrmann mit der Peitsche drei Kreuze vor seinem Pferde macht, bevor er abfährt 12), so soll es dieselbe Wirkung haben wie die Gebetsformeln, die Cäsar dreimal gemurmelt haben soll, ehe er eine Reise antrat 13). Ein Reiseopfer an den hl. Leonhard, den Schutzheiligen der Pferde, bedeutet das Hufeisen, das man in Meran an die Kirchtür des Heiligen nagelte, wenn man auf die Reise ging 14). Eine vorchristliche. Opferhandlung in christlichem Gewände ist auch das Minnetrinken auf die hl. Gertrud, die Schutzpatronin der Reisenden, das später auf Johannes übertragen wurde 15). Der feste Glaube an die Hilfe der Heiligen, die sich zum Helfen verpflichtet hatten, hat in verschiedenen Legenden seinen Niederschlag gefunden 16). Die vielen Reisegebete und -segen verraten manchmal trotz ihres christlichen Aussehens, ebenso wie die verstümmelten heutigen Grußformeln, eine Herkunft von anderen Segen und Beschwörungen 17).

Größeren Einfluß als all dies hat nach dem Glauben des Volksmenschen der Reisezauber auf den Verlauf der Reise. Er hat immer und überall seine Pflege gefunden. Man braucht nur an die Puppen und Bären zu denken, die in jedem Auto als Talisman auf die Reisen mitgenommen werden.
— Der Reisezauber kann darin bestehen, daß man heilbringende oder abwehrende Gegenstände mit auf die Reise nimmt: Brot, das vor Heimweh und Bezauberung schützt 18), Wacholder oder Rainfarren oder geweihter Salzstein, die unbestimmte zauberische Kräfte besitzen 19), Igelfett, das Ungeziefer 20), Stahl, der den bösen Feind abwehrt 21). Äpfel und Eier darf man dagegen nicht mitnehmen 22), wahrscheinlich, weil sie schon zu oft unterwegs entzwei gegangen sind.
Eine andere Art des Reisezaubers bedeutet es, wenn der Abreisende oder die Zurückbleibenden Handlungen vornehmen, die in magischer Weise auf den Verlauf der Reise ein wirken sollen. Die Zurückbleibenden müssen dem Abreisenden „nachsehen“ 23), d. h. sie öffnen die Tür, die er schon hinter sich geschlossen hat, und geben ihm das Geleit, damit er wohl! behalten zurückkomme. Dann muß die Frau, manchmal noch der Reisende selbst, das Brot vom Tisch nehmen und verwahren, sonst wird ihm der Weg sauer 24); sie darf am selben Tag weder Stube noch Bett machen 25). Bei den primitiven Stämmen darf sie an diesem Tag kein Feuer aus dem Hause geben 26). Dies alles geschieht, damit der Abgereiste nicht den Zusammenhang mit der Heimat verliere, damit ihn weder Unglück noch Tod treffe. Für manche Gegenden gelten diese Vorschriften nur so lange wie der Reisende sich innerhalb der Dorfgrenze befindet 27), oder bis er den ersten Halteplatz erreicht hat.
— Der Abreisende selbst sollte immer rückwärts aus der Tür gehen, um sich vordem bösen Feind zu schützen 28). Es ist gut, wenn er eine Weile auf der Bank vor dem Hause sitzt, bevor er endgültig aufbricht 29). Manchmal scheint die Abreise in angetrunkenem Zustande einen glücklichen Verlauf zu sichern 30). Die bösen Geister gewinnen keine Macht über den Reisenden, wenn er mit etwas Brennendem, z. B. einer Pfeife, abfährt 31). Er darf niemals umkehren, um etwas Vergessenes zu holen. Dann geht auch seine Reise „hinter sich“ 32).
— Ob es sich bei der Pfeilübergabe des langobardischen Freilassungsaktes, der auch das Recht der Freizügigkeit erteilte, um einen Reisezauber oder um eine reale oder symbolische Wehrhaftmachung handelt, mögen andere beurteilen. Der Text bei Paulus Diakonus läßt beide Deutungen zu 33).
— Entschieden das sicherste Mittel, allen Fährnissen der Reise zu entgehen, gibt eine Handschrift des 16.17. Jahrhunderts an. Dort heißt es 34): Man soll auf einer Wegscheide an der linken Schuhsohle und an den Zehen mit Kreide Zeichen machen und sprechen: „Ich gebeutte dir das du mir underthenig seyest, und mich füerest ohne schaden meines Leibes, das ich möge in der Zeit do und do sein möge: Nun hebe mich auff über alle Stock und Stauden und Felsen“. Wenn man dann ungefährdet angelangt ist, muß man die Kreide von den Schuhen waschen, dann ist der Fuhrmann weg.

Im Gegensatz zum Reisezauber steht der Angang 35), der ohne das Zutun der Menschen eintritt, und den man deshalb gerne als Orakel benutzt. Auch andere Zufälle, die man nicht als Angang bezeichnen kann, geben dem Volksmenschen Stoff genug zu Prophezeiungen über den Verlauf der angetretenen Reise. Bleibt der Abreisende z. B. mit dem Mantel in der Tür hängen, dann kehrt er gesund zurück 36). Verschüttet er Wasser, so sollte er lieber zu Hause bleiben, denn es bringt Unglück 37). Im altindischen Zauberritual allerdings, das bei der Abreise üblich war, wird das Ausgießen von Wasser als eine heilige Handlung gefordert 38). Unglück bringt es dem Reisenden, wenn er unterwegs nach seinem Ziel gefragt wird 39), oder wenn sein Stock hinfällt 40). Die Zurückbleibenden haben immer die Möglichkeit, an dem Gedeihen des Lebensbaumes, den der Abreisende in irgendeiner Form eingepflanzt hat, sein gutes bzw. schlechtes Fortkommen während der Reise zu erkennen 41).

Trotz allen Reisezaubers, trotz der Opfer und Gebete lauern viele Gefahren, besonders in der Stunde der Mitternacht 42), auf den Wanderer. Diese Reise- und Weggeistersagen, die eine geängstigte Phantasie hervorgebracht hat, wollen sich in der Grausigkeit der Darstellung schier übertrumpfen 43).

Wenn der Reisende, dem schon seine Pferde durch ihr Niesen eine gute Ankunft prophezeit hatten 44), am Ziel angelangt war, dann hatte er strenge Reinigungsriten auszuführen, ehe er in die Gemeinschaft der anderen aufgenommen wurde. Nach dem Glauben der antiken Völker verlangten die Hausgötter ein Versöhnungsopfer für jeden, der in die Hausgemeinschaft eintrat 45). Heute haben nur noch die primitiven Völker den Zwang der Reinigungsriten bei der Rückkehr von der Reise. Man hängt dort die Reisekleider eine Zeit lang in die Bäume 46), schneidet die Haare, die während der Reise lang bleiben mußten 47), wäscht und besprengt sich mit bestimmten Flüssigkeiten 48) und darf nur bestimmte Dinge essen 49).

Man muß auch, wie während der Reise, Keuschheit wahren 50) und die ersten Nächte in einer abgelegenen Hütte schlafen. Dies alles geschieht, damit etwaige böse Zauber, die dem Reisenden anhaften könnten, von ihm genommen werden, und er niemand mit ihnen anstecken kann.
— Wegen der Bedeutung, die eine Reise in früheren Zeiten besaß, und wegen der Gefahren, mit denen sie verbunden war, bestanden für die Reisenden im Mittelalter Ausnahmerechte: Sie durften ihre Nahrung ungestraft vom Felde und aus den Gärten nehmen 51), ebenso das Holz, das sie zum Ausbessern eines beschädigten Wagens nötig hatten 52). Nach der Lex Burgundia hatten die Gesandten fremder Völker sogar das Recht, unterwegs ein Schwein oder einen Hammel von den Bauern zu fordern 53). Selbstverständlich wurde gefordert, daß man dem Reisenden in jeder Weise behilflich sein sollte 54).

Außer den, trotz aller Mühsale, immerhin alltäglichen Reisen wissen Legenden, Sagen und Märchen von wunderbaren Reisen der Lebenden und der Toten zu berichten. Wie um die Helden der Antike haben sich auch um die Gestalten des Urchristentums Wanderungslegenden gebildet 55). Diese führen noch heute in katholischen Ländern ein starkes Eigenleben 56).
— Die Reise ins Jenseits spielt eine große Rolle im Phantasieleben des Volksmenschen jeder Zeit und jedes Stammes 57). Die Toten versammeln sich an bestimmten, auch den Menschen bekannten Plätzen im Wald, auf einer Wiese, in einer Höhle usw. 58). Von dort aus begeben sie sich gemeinsam auf ihre qualvolle und mühselige Wanderung. Auch Lebende gelangen manchmal ins Totenreich. Davon berichten nicht nur die Sagen von Orpheus, Herakles, Odysseus 59), sondern die Dichtungen aller Völker, so z. B. das Gilgameschepos 60), das Kalewalaepos der Finnen 61) und eine Sage aus Kamtschatka 62). In den Märchen weisen viele Angaben auf diese Vorstellung von Reisen Lebender ins Totenreich hin. Sie verbergen sich unter anderen Namen, wie Himmel, Hölle, Gestirne 63), wo man Wunderdinge wie das Wasser des Lebens sucht. Die Wanderungen in diese Welten werden je nach dem Charakter des Dichters entweder mit vielen Bildern als grauenhaft und gefährlich geschildert oder mit wenigen Worten abgetan, die das Unheimliche nur ahnen lassen 64). Die häufige Anwendung und Ausbeutung dieses Märchenmotivs zeigt wiederum, welch großes Ereignis eine Reise für den Menschen vergangener Zeiten war.

Auf das Prophezeien des Reisewetters weisen die beiden Sprichworte hin: Wenn Pfaffen reisen, so regnet es 65) — und: Wenn Engel reisen, dann lacht (oder weint) der Himmel 66).

1 ) John Erzgebirge 193. 2 ) Wander Sprichw.-Lexik. 3, 817 Nr. 13; ZfdMyth. 2 (1854), 101; Haltrich Siebenb. Sachsen 288; Fogel Pennsylvania 216 Nr. 1365; Stern Türkei 1, 378. 3 ) Mündl. von d. Nord- u. Ostsee. 4 ) John Westböhmen 29. 5 ) Meyer Baden 506. 6 ) Fogel Pennsylvania 216 Nr. 1093. 7 ) Stern Türkei 1, 377. 378. 8 ) Radermacher Beiträge 63. 9 ) Caland Altind. Zauberritual 3, 7 Nr. 2 (1900), 46. 10 ) Sartori Sitte 2, 49. 11 ) Ebd. 12 ) Knoop Hinterpommern 167; Drechsler 2, 18; Urquell 1 (1890), 6. 13 ) (Keller) Grab d. Abergl. 5,233. 14 ) Meyer Germ. Myth. 252. 15 ) Böckel Volkslieder XXXVII; Weinhold Frauen 2, 191; Zingerle Johannissegen 220; Kondziella Volksepos 152; Zingerle Johannissegen 182. 16 ) Böckel Volkslieder XXXIX, XXXVII (im übrigen s. „Minnetrinken“). 17 ) Wlislocki Sieb. Volksgl. 112; ZfVk. 5, 421; 1, 308; Grimm Myth. 3, 499 Nr. 21; Weinhold Frauen 2, 185; SchwVk. 3, 138; ZfdMyth. 3, 323. 18 ) Laube Teplitz 67; Rochholz Glaube 2,118. 19 ) Grohmann 97; Schönwerth Oberpfalz 3, 272; Leoprechting Lechrain 157. 20 ) Schönwerth Ober-Pfalz 3, 272. 21 ) Toeppen Masuren 102. 22 ) ZföVk. 3 (1897), 20 Nr. 96. 23 ) Liebrecht Zur Volksk. 323 Nr. 79. So; Sartori Sitte 2, 49. 24 ) Köhler Voigtland 429; Panzer Beitrag 1, 267; Grimm Myth. 3, 448 Nr. 442. 25 ) Sartori Sitte 2,51; ZfVk. 2, 264; Urquell 4, 94 f. 26 ) Sartori Sitte 2,51. 27 ) Liebrecht Zur Volksk. 323. 28 ) Laube Teplitz 67. 29 ) Urquell 4 (1893), 116 Nr. 84. 30 ) Toeppen Masuren 102. 31 ) Ebd. 32 ) Grimm Myth. 3, 435 Nr. 14; Unoth 1, 186 Nr. 111; Meyer Aberglaube 230; ZfVk. 3, 28; Urquell 1 (1890), 66 Nr. 32; Spiess Fränkisch-Henneberg 151. 33 ) Goldmann German. Freilassung (1904) 15; Vordemfelde Religion 37 ff. 34 ) ZfdMyth. 3,324. 35 ) S. „Angang“. 36 ) Müller Isergebirge 35. 37 ) SchwVk. 3, 74. 38 ) Caland Altind. Zauberritual 3, 7 Nr. 2 (1900), 63. 39 ) Wolf Beiträge 1, 252. 40 ) Knoop Hinterpommern 163; ZfVk. 3, 131. 41 ) Maack Lübeck 53. 42 ) (Keller) Grab d. Abergl. 5, 89. 43 ) S. „Weg“. 44 ) Toeppen Masuren 102. 45 ) Samter Familienfeste 8 f. 46 ) Frazer 2, 113. 47 ) Ebd. 1,261; 2, m. 48 ) Ebd. 2, 112 fg. 49 ) Ebd. 50 ) Ebd. 2,113. 51 ) Grimm RA. 1,553. 52 ) Ebd. 53 ) Ebd. 54 ) Grimm Weistümer 2, 321. 55 ) Pfister Reliquienkult 1, 255. 266. 56 ) Sebillot Folk-Lore 2, 363; 1, 321. 57 ) S. „Totenland“. 58 ) Tylor Cultur 2, 44 ff.; I. 473 59 ) Rohde D. griechische Roman 268 Anm. 2. 60 ) Gressmann Gilgamesch 135 f. 61 ) Schiefner Kalewala (1914) 129 ff. 147 ff. 62 ) Wolf Beiträge 1, 94. 63 ) Tausend u. Eine Nacht (Weil) 1,291. 295; 2,197; 3, 28. 103 ff.; Kreutzwald Esthn. Märchen 179. 269; BoltePolivka 1,233; 2,234; 3.38; Köhler Kl. Sehr. 1, 52; 1, 445; Gunkel Märchen 65. 51 ff.; ZfVk. 22 (1912), 159. 64 ) Sklarek Märchen 1, 263. 168; Grimm Märchen 1, 81. 247. 143; 2, 118. 146. 212; 3, 177. 167 usw. s. Siuts D. Jenseitsmotiv im deutschen Märchen. 65 ) Schultz Alltagsleben 242. 66 ) mündl. Schmekel.

wiki/aberglaube.txt · Zuletzt geändert: 2024/04/14 05:52 von norbert

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