Der Stereotyp des Flaneurs (im Larousse findet sich auch die Flaneuse) entstand im 19. Jahrhundert in den Straßen von Paris und blieb im Wesentlichen eine städtische Erscheinung (engl. »a strolling urban observer«), die zu den Nicht-Reise-Formen des (balconing) passt und mit Derivé verwandt ist. Eine verwandte Figur ist auch der Gassenhauer, der nachts singend durch die Gassen zog, dem jedoch im Unterschied zum Flaneur der Ruf des Liederlichen, Rohen, Lauten anhaftete. Wenn heute von »globalen« Flaneuren geredet wird, so liegt dem jedoch ein Missverständnis über das Wesen des Flaneurs zugrunde.
1834 erschien in Paris die Zeitung Le Flâneur als »cicérone des étrangers à Paris: journal non politique …« Literarisch beschreibt Edgar Allan Poe
1840 die Figur des Flaneurs in seiner Erzählung »Der Mann in der Menge«; Charles Baudelaire
(Die Blumen des Bösen) war davon begeistert. Zu seiner Zeit besaß Paris bereits 20 überdachte Passagen, die ideale Umgebung für das Bad in der Menge und den Blick des Flaneurs auf die Anderen. Walter Benjamin
machte daraus eine literarische Form und schrieb flanierend Notizen, die er in seinem Passagen-Werk 1927 bis 1940 verarbeitete. Die Lebensweise des Flaneurs zeigte auch der Film von François Truffaut
(1932 – 1984): Sie küßten und sie schlugen ihn (Les quatre cents coups), 1959 mit Jean-Pierre Léaud
.
Nichts ist, was es scheint. Das Dahinter zu sehen, bedarf der Wahrnehmungskraft, der Phantasie und der Kraft des eigenen Denkens. Das Flanieren ist eine Form der kultivierten Langeweile; der Flaneur spielt mit der Welt, sein Blick läßt sich von Oberflächlichkeiten leiten und folgt hier und da assoziativen Gedankengängen in die Tiefe, doch ohne analytischen Anspruch, eben »bei-läufig«. Spezifisch für den Flaneur ist seine Methode, durch zielloses und gemächliches Umherschweifen das Vertraute en passant zu verfremden. Diese Methode funktioniert nur, wenn der Flaneur in seiner eigenen Welt unterwegs ist, denn als Fremder in der Fremde ist alles fremd.
Das Flanieren ähnelt dem Gang des Passanten und dem Spazierengehen, dem Wandern jedoch schon nicht mehr und es ist dem Reisen des Abenteurers diametral entgegengesetzt. Die Suche nach dem Unbekannten und Neuen in der Ferne, nach neuen äußeren Reizen hilft dem Abenteurer, seine Fähigkeiten im Umgang mit Gefahren zu erproben. Der geübte Globetrotter könnte es genießen, mit verbundenen Augen in ein Flugzeug gesetzt zu werden, dessen Ziel er nicht kennt, doch in der Gewißheit, sich an jedem Zielort zu behaupten. Der Flaneur jedoch sucht nach neuen Reizen im Vertrauten, er erweitert dabei seine Innenwelt, seine Fähigkeiten im Umgang mit sich selbst. Wildnis und unberührte Natur sind nicht seine Welt, denn er sieht sich als »empfindsamen Reisenden«, der durch zuviel Neues eher verletzt wird.
Der Flaneur im heutigen Sinne ist ein Kind des 19. Jahrhundert, doch der Begriff ist älter und meint abwertend eine unnütze Zeitverschwendung. Ihm zugrunde liegt das französische flâner zugrunde, das auf normannisches flanner rückgeht und möglicherweise aus dem norwegischen flana ‘gefallsüchtig sein’ und schwedisches flana ‘müßig, leichtsinnig sein, spielen, tollen’ entstanden ist 1).
Alain de Botton Kunst des Reisens Aus dem Englischen von Silvia Morawetz Frankfurt am Main: S. Fischer 2002 288 Seiten, Anmerkungen, Textabbildungen
Der Titel ist irreführend: Es geht hier nicht um die Kunst des Reisens, sondern um die Kunst, seine Reiseerfahrungen ästhetisch auszudrücken. Das ist natürlich etwas ganz anderes.
Der Autor sucht sich »guides« für die einzelnen Kapitel, beispielsweise Baudelaire
und Edward Hopper
, wenn es ums Reisestationen geht oder Gustave Flaubert
zum Thema des Exotischen. Man erfährt einiges über das Verhältnis von Flaubert zum Reisen, seinen Hang zum Exotischen dem Abscheu vor Nachbarn, der Provinz, Frankreich, Europa … Im letzten Kapitel läßt er sich von Xavier de Maistre
führen, dem Autor der »Reise um mein Zimmer«. 2)
Den Schlüssel zu diesem Buch liefert der letzte Abschnitt: »Wir begegnen Menschen, die auf Eisschollen getrieben sind, die Wüsten durchquert und sich durch den Dschungel hinduchgekämpft haben – und in deren Seele wir vergeblich nach Spuren ihrer Erlebnisse suchen. Mit einem rosa-weißen Pyjama angetan, machte Xavier de Meistre uns die leise Andeutung, doch vor dem Aufbruch in ferne Welten erst einmal einen Blick auf das zu werfen, was wir schon zu kennen glauben.«
Die Methode, die de Maistre
aus der Not gebiert, wird für de Botton
zum Programm. Es ist die Methode des Flaneurs. Für ihn besteht der Sinn des Reisen in der Suche nach dem Schönen. Doch »das Schöne« ist subjektiv: Etwas Wahrgenommes spricht etwas in uns an, es berührt uns und löst dadurch ein harmonisches Gefühl aus. Dies bedeutet für den Flaneur zweierlei:
Der Flaneur galt als ausgestorben, scheint mit de Botton jedoch wieder einen Fürsprecher gefunden zu haben. Interessant ist, daß die »sentimental journey« ihre Blütezeit in der Epoche der Französischen Revolution hatte und nun, nach 1989 und zum fin de siécle (vielleicht) wiederauflebt. (Norbert Lüdtke, Der Trotter)
Kristian Ditlev Jensen Von japanischen Brotbüchsen, indischen Göttern, komischen Alpendialekten, süßen Südstaaten, afrikanischen Kriechtieren und der Köstlichkeit des langsamen Reisens Aus dem Dänischen von Sigrid Engeler (Ord i orientekspressen. Kopenhagen 2007) Hoffmann und Campe Hamburg 2008, 222 Seiten
Der Titel erinnert in der Länge an Buchtitel des 17. Jahrhunderts, als es noch keine Eisenbahnen gab und jeder langsam reisen mußte, meist zu Fuß.
Jensen dagegen reist 2005/06 acht Monate professionell auf allen Kontinenten und berichtet über seine zwölf (meist exklusiven) Zugreisen für das dänische Magazin Ud & Se. Ganz so langsam ist das also nicht, dafür übernahm die dänische Eisenbahngesellschaft DSB die Kosten für das Reisen im Blue Train, dem Glacier Express oder dem Ghan. Die DSB plante und organisierte die Fahrten auch, so daß sich der Autor aufs Schreiben konzentrieren konnte.
Schreiben kann er tatsächlich gut und sympathisch erscheint auch, daß er seine Notizen sämtlich handschriftlich in einem dicken, eigens für diese Reise in Leder gebundenen Tagebuch, niederlegt. Und so läßt er sich im zweiten Kapitel kunstvoll über langsames Reisen aus, etwa über die einstündige Zugfahrt durch die Slums von Bombay.
Einen ganz besonderen Sinn hat Jensen für Details: Er nimmt ungewöhnlich viel wahr und schreibt ungewöhnlich viel auf. Der Blick aus dem Waggonfenster oder kleine Ereignisse zwischen den Mitfahrenden im Abteil werden sehr dicht geschildert; das Wahrnehmen und Notieren muß dabei ein anstrengender, ineinander überfließender Vorgang gewesen sein; es erfordert gleichzeitig Nähe und Distanz und die Trennung von Hand und Kopf; es erfordert die Eigenschaften eines Flaneurs, eines Typus, der seit dem 19. Jahrhundert ausgestorben zu sein scheint.
Später ist ein zweiter Schritt notwendig, denn aus dem notierten Material muß ein Essay entstehen. Aus Notizen werden im besten Fall kleine Geschichten, und wo das nicht möglich ist überbrücken biographisch motivierte Assoziationen (Als Kind hatte ich eine ähnliche …) Unüberbrückbares.
Eines ist das Buch jedenfalls nicht: ein typischer Reisebericht. Und das ist gut so, denn der Autor hat ja die wesentlichen Hürden einer richtigen Reise nicht selbst genommen: ein Sponsor zahlt, die Vorbereitung ist delegiert, die investierte Zeit ist eigentlich Arbeitszeit. Die gewählte Reiseform minimiert zudem weiteren Aufwand: Übernachtung, Essen und Trinken, Aufenthalte … sind fest programmiert auf hohem Niveau. Dem entsprechend fallen die Kapitel stark ab, in denen sich Jensen mit reisepraktischen Aspekten beschäftigt (»Denk an die Zahnbürste«).
Beispielhaft für Reisende ist das Buch daher vielmehr hinsichtlich seiner Methode die Welt anzuschauen, sich mit ihr zu verbinden und darüber zu schreiben, wie sich das Selbst und die Welt verbinden und im besten Fall ausdehnen lassen.
(Rezension von Norbert Lüdtke im Trotter, DZG)
Paul Gavarni
: Le flâneur ZeichnungVincent van Gogh
: Le Moulin de Blute-FinJean Béraud
: Parisienne, la place de la ConcordeLouis Anquetin
August Macke
: Modes: Frau mit Sonnenschirm vor HutladenLyonel Feininger
: Dame in MauveRudolf Schlichter
: HausvogteiplatzErnst Ludwig Kirchner
: StraßenszeneLee Friedlander
: New York CityHelmut Middendorf
: Großstadteingeborene IIHelmut Middendorf
: City Feeling, 180×220 cmThomas Struth
: Art Institute of Chicago 2Jeff Wall
: Passerby\\Heinrich Ehmsen
: 9. FlaneurGustave Donjean
: Titel- und Notenblatt zu Le Flaneur von L. Frederich, Germanisches Nationalmuseum NürnbergDas Konzert vom 7. November 2018 im Kunstmuseum Bonn anlässlich der Ausstellung »Flaneur …« umfasste:
Modest Mussorgskij
Francis Poulenc
Arthur Lourié
Federico Mompou
Steffen Schleiermacher
Pierre Boulez
formant 3: constellation-miroir
aus: Sonate für Klavier Nr. 3Erik Satie
siehe Liste der Ausstellungen
Elkin, Lauren
Fuchs, Gerhild
Giaccardi, Chiara
Hallberg, Ulf Peter
Kleinspehn, Thomas
Löffler, Klara
Colin G. Pooley
Randow. Gero von
Schlaffer, Hannelore
Tester, Keith
Wrigley, Richard
Bertram Weisshaar
im Gespräch mit Stephan Karkowsky
, Deutschlandfunk 19.09.2018 Siehe auch * Liste der unübersetzbaren reiserelevanten Begriffe
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