Bernhard Hassenstein, Evelin Kirkilionis
Der menschliche Säugling, Nesthocker oder Tragling?
In: Wissenschaft und Fortschritt 42/1992
Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn Speise? Und der Leib mehr denn die Kleidung? Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie? Bergpredigt, Mathaeus 6: 25-26
Zugvögel und die ostafrikanischen Gnus, Aale ebenso wie Lachse folgen teils mehrjährigen, teils zehntausende Kilometer langen Migrationswegen, weil sich dieses Verhalten in der Evolution als vorteilhaft erwiesen hat: sie folgen dem Regen, der Nahrung, der Wärme und werden begleitet von Räubern: die Bären warten auf die Lachse, die Krokodile auf die Gnus - ineinander verschlungene Kreisläufe des Überlebens.
Für die Menschen hat es sich evolutionär als Vorteil erwiesen, von solch programmiertem Verhalten abzuweichen und nach neuen Wegen zu suchen. Dazu mussten sie Wasser und Nahrung mitnehmen und sich mit Kleidung schützen.
Anders als bei Zugvögeln und Gnus sind menschliche Nachkommen als biologische »Frühgeburt« noch lange an die Mutter gebunden. Alles, was sie anfangs können müssen, sind klammern und greifen. Klammerreflex und Greifreflex des Neugeborenen finden sich beim Menschen ebenso wie beim Affen; letzterem helfen diese Reflexe sich im Fell der Mutter festzukrallen; die »Anhock-Spreizhaltung« schmiegt die Körper nah aneinander 1). Irgendwann im Laufe der Menschwerdung wechselte der Tragling vom Bauch auf den Rücken, noch ein paar hundert Generationen später war auch das Fell weg, die Reflexe wurden nutzlos, aber die Mütter mußte sich etwas einfallen lassen, um ihre Kinder tragen zu können.
Ohne Fell und ohne Nest muss eine Tragehilfe für das Neugeborene her. Der aufrechte Gang ermöglichte neue Tragetechniken. Lasten auf dem Rücken zu tragen und dabei die Hände frei zu haben für Werkzeug oder Waffen ist sicher ein evolutionärer Vorteil. Mit Wasser, Nahrung und wärmender Kleidung neue Lebensräume erschließen zu können hat den Menschen in den letzten hunderttausend Jahren auf alle Kontinente geführt, begleitet von Raben, Ratten, Hunden, die ebenso wie der homo portans ein besonders ausgeprägtes »Appetenzverhalten« zeigen, also neugierig sind. Wenn aber Neugier zum Reisen führt, so erfordert dies vorausschauendes Sammeln, Horten und das Tragen des Gepäcks.
Eichhörnchen und Hamster sammeln und horten - das macht sie aber nicht mobil, sondern standorttreu und bindet sie an ihre Vorräte. Der Mensch dagegen hat gelernt, seine Vorräte zu tragen und zu transportieren, zuerst mit Netz, Beutel und Stab, viel später auch mit dem Rad.
Dass der Mensch den größten Teil seiner Existenz Sammler und Jäger war, weiß jeder. Aber wie hat er es geschafft, mit zwei Händen nicht nur den Grabstock 2) zu tragen, sondern auch die Wurzeln und die Kräuter, die Beeren und die Pilze kilometerweit durch den Busch zu schleppen zurück zur hungrigen Familie? Und wie transportiert man mit nur zehn Fingern Stöcke, Speer, Bogen, Pfeile und Messerklinge, Trinkwasser und Fleisch durch die Savanne? Bei Affen kann man sehen, wohin das führt: entweder sie bleiben hocken und fressen oder sie fliehen auf einen Baum und lassen die Nahrung fallen.
Wann der Mensch erstmals Tragetechniken wie Behälter, Schnüre und Tragehilfen genutzt hat ist unbekannt; archäologisch nachgewiesen ist ein rund 50.000 Jahre altes, geflochtenes Seilstückchen aus einer Höhle in Frankreich, das den Neandertalern zugeordnet wird 3) und ein 500.000 Jahre alter Befund, dass Holz und Stein zu einem gemeinsamen Werkzeug verbunden waren 4). Zum einen zerfallen die organischen Materialien nahezu spurenlos, zum anderen sind Knoten und Nähte nicht so spektakulär wie die Erfindung des Rades und der Wagenbau. Hätte der Affe seine Bananen in einem Beutel auf dem Rücken, könnte er klettern ohne seine Beute zu verlieren. Dass man mit Beuteln, Säcken, Netzen mehr sammelt als man sofort verzehren kann, hat Vorteile:
Die Vorräte langfristig zu organisieren ermöglicht das Überleben in Trockenzeiten, Dürreperioden, in Jahreszeiten ohne Ernten, bei Klimaschwankungen oder bei Krankheit. Das erfordert jedoch
Vorräte müssen geschützt werden, gegen Tiere wie Ameisen ebenso wie gegen Elefanten oder andere Menschen. Die Sorge gehört zum Menschsein, als Vorsorge wird sie zum Antrieb von Sammeln, Horten und Bewahren. dass es jede Menge Nahrungskonkurrenten gibt weiß jeder, der schon einmal in der Wildnis unterwegs war und ein bush-camp eingerichtet hat. Die Mittel dazu sind in der Natur begrenzt. Man kann Nahrungsmittel geruchsdicht vergraben (Graved Lachs, Hákarl), zwischen Bäumen aufhängen oder auf freistehenden Plattformen lagern (bear cache) 5). In jedem Fall erfordern diese Maßnahmen schon einiges an handwerklichem Aufwand.
Vor etwa 100.000 Jahren könnte der moderne Mensch den afrikanischen Kontinent frühestens verlassen haben. Da trug er sein Reisegepäck noch selbst, konnte Beutel, Netze und Säcke, Körbe und Kürbisflaschen herstellen und konstruierte Tragehilfen aus Holz und Knochen, mit Schnüren und Seilen. Als Gepäckträger kam der Mensch bis nach Südostasien, Australien und Neuguinea.
Irgendwann entschied sich im westlichen Europa der Hund dazu, den Menschen zu begleiten. Immerhin so früh, dass er mit einer der Besiedlungswellen über Beringia auf den amerikanischen Kontinent gelangte. Hüben wie drüben nutzte man ihn auch als Tragtier für kleine Lasten und als Zugtier für Stangenschleifen und sehr viel später für Schlitten.
Erst vor etwa 10.000 Jahren wurden Haustiere domestiziert. Zu Ziege und Schaf gesellte sich der afrikanische Esel, dem man schon eine größere Last aufbürden konnte; alle drei begleiteten den Menschen auf seinem Weg in andere Klimazonen. Als Lkw unter den Lasttieren erwies sich das aus dem Auerochsen gezüchtete Rind. Erst vor rund 3.000 Jahren kamen das (anspruchsvolle) Pferd, das Kamel in Trockengebieten und das Rentier in den borealen Zonen hinzu und mit Letzterem auch der Schlitten in den arktischen Gebieten.
Außerhalb von Afrika und Eurasien blieben wilde Tiere wild. Karibu und Bison, Antilopen und Zebra wurden nie domestiziert, dienten nirgends als Last- oder Zugtier. In Australien gab es keine Haustiere. Abgesehen vom Hund sowie vom Lama und dessen Verwandten in den südamerikanischen Anden gab es keine vergleichbaren Zug- und Lasttiere in Amerika.
Der vom Ochsen gezogene Wagen verbreitete sich ab etwa 3.500 v. Chr. innerhalb von 300 Jahren vom zentralen Europa aus im Vorderen Orient und bis nach Südasien. In Australien kannte man das Rad nicht. In Ägypten war der Wagen nicht erfolgreich, dort zogen Menschen die Lasten auf Schlitten und Walzen. Im übrigen Afrika wurden keine Zugtiere eingesetzt. Der Wagenbau erforderte nicht nur die Kenntnis des Rades, sondern er musste auch zu den natürlichen, technischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen passen, damit er sich erfolgreich durchsetzen konnte.
In Europa lässt sich beobachten, dass mit der Verbreitung des Wagenbaus die Rodungsräume um die Dörfer größer wurden und dass sich die Häuser zunehmend an einer geraden Dorfstraße aufreihten, so dass Wagen vermutlich zunächst lokal und im Zusammenhang mit der Felderwirtschaft eingesetzt wurden, während die Zugtiere sowohl für den Pflug als auch für den Wagen eingesetzt wurden 6).
Mit der Fähigkeit etwas zu tragen und die Hände frei zu haben ließ sich Besitz anhäufen, der zur Last fiel. Wer zentral organisierte, konnte anderen etwas aufbürden und diese etwas zusammentragen lassen, Stämme und Steine für Tempel, Paläste, Häuser beispielsweise. Das Tragen erschien als bedeutende Tätigkeit, einem Atlas würdig, der das Himmelsgewölbe duldend erträgt. Bürde und Würde bedingen einander: Jesus trägt sein Kreuz, *Christophorus trägt das Jesuskind, Atlas die ganze Welt.
»Homo Portans. Tragen – die Faszination des Selbstverständlichen« hieß eine Tagung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden vom 19. bis 21.05.2011. Im Abschlussbericht 7)formulierte Annette Kehnel
ein Fazit, das der Fähigkeit des Tragens besondere Selektionsvorteile des Homo Portans zuweist, insbesondere als eine Voraussetzung:
Außer Acht blieb in dieser Aufzählung, dass Macht auch zu Hierarchie führt und damit das Tragen an Gepäckträger delegiert werden kann, qua Macht, Geld, soziale oder berufliche Differenzierung.
Bernhard Hassenstein, Evelin Kirkilionis
Biancamaria Aranguren, Anna Revedin, Nicola Amico, Fabio Cavulli, Gianna Giachi, Stefano Grimaldi, Nicola Macchioni, Fabio Santaniello
Hardy, B.L., Moncel, M., Kerfant, C. et al
.John F. Hoffecker
Ian Kuijt, Bill Finlayson