Winfried Breidbach
Reise - Fahrt - Gang. Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen.
Diss. Universität Köln. Frankfurt am Main 1994: Peter Lang
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Im germanischen Sprachraum erscheinen die ältesten noch aktiven Konzepte als Gang, Fahrt und Reise, wobei sich Letzteres als Generikum durchgesetzt hat:
Offensichtlich ist dies inhaltlich unzureichend, nicht konsistent oder auch widersprüchlich. Davon abweichend dient hier der Begriff des Unterwegs-Seins als Oberbegriff und terminus technicus für den gemeinsamen, allgemeinen Bedeutungsgehalt der spezielleren Begriffe wie etwa Gang, Fahrt, Reise. Betrachtet man diese als soziotechnische Handlungssysteme, so zeigen siich spezifische Unterschiede im Handlungsablauf, in Phasen und Figuren.
Breidbach
1) fand 358 verschiedene Bezeichnungen für Fortbewegung (mehr siehe dort) in den ältesten Quellen der sieben altgermanischen Sprachen 2) und reduzierte diese auf 21 Stämme für das `sich-fortbewegen´ des Menschen. Von diesen ist *faran die produktivste, etwa in Fahrt, Fahrzeug, Gefahr, Gefährte, fertig u.a. Da jeder dieser Stämme von einem anderen Verb ausgeht, enthalten sie auch andere Bedeutungen, welche zum Zeitpunkt ihrer Entstehung als etwas Anderes für das Unterwegs-sein, zu ihrer Zeit Neues wahrgenommen wurden.
Aus dem zugrundeliegenden Handeln (angezeigt durch Verben der Fortbewegung wie germ. gangan, wegan) wird eine abstrakte Tätigkeit (Nomina wie Gang oder Weg).
Die Vorstellung vom Unterwegs-sein als Gang ist älter als die der Fahrt (aengl. gang < anord. gangr, ahd. gang, got. gaggan, IE *ĝhengh-, Sanskrit jangha 'Fuß' und jáṁhas- 'Schritt') und zeigt zahlreiche germanische Ableitungen.
In den ältesten Belegen gehen die Vorstellungen von Gang und Weg ineinander über, sowohl im Deutschen 3) als auch im Griechischen 4).
Der Gang wurde so wie der Weg als Mittel zum Ziel verstanden, wobei der Weg zielführend ist.
Wege sind jedoch das Ergebnis eines anhaltenden gemeinschaftlichen Handelns. Wer den Weg geht, folgt dem Weg, den schon viele gegangen sind.
Der Gang erscheint als (selbstauferlegte) Pflicht (eines Einzelnen) zur mühsamen Erfüllung einer Aufgabe und endet damit, bezieht sich also nicht auf den Rückweg. Er bedarf keiner besonderen Erlaubnis und keines weiteren Mittels und legitimiert sich durch den gewählten Weg.
Die Vorstellung vom Gang enthält weder Angaben über verwendete technische Mittel noch über ein bestimmtes Ziel oder den verfolgten Zweck.
Im Unterschied dazu gibt es den weglosen Gang (z. B. Jagd) und den zweckfreien Gang (z. B. Wandern).
Beispiele: Gang nach Canossa, Spaziergang nach Syracus.
Phasen: Ausgang, Durchgang/Übergang, Eingang, Aufgabe erfüllen.
Die Begrifflichkeit (Fahrt, Kehre, Aufbruch) wurzelt in der Tätigkeit des Ackerbauern und seiner (kleinen) Fahrt zum Acker. Das Aufbrechen der Brache setzt sich mit der Tätigkeit des Pflügens zwischen den Ackergewänden fort als einer gleichbleibenden Folge sich wiederholender Tätigkeiten: in der Furche gehen bis zum Rain (Gewände) und wenden mit Kehr und Gegenkehr. Diese Tätigkeit war überlebenswichtig für die Gemeinschaft.
Die »Große Fahrt« spiegelt die Phasen der kleinen Fahrt: die Furche wird zum Weg, das Gehen zum Gang, die Wendepunkte zu Umkehr und Heimkehr. Während die kleine Fahrt im vertrauten, befriedeten Raum stattfindet, verlangt die Große Fahrt nach einem Übergang hinaus in den Zwischenraum.
Die langobardische fara und das Fahrende Volk bilden je eigene Gemeinschaften, die unterwegs sind. Während der Landmann mit seiner kleinen Fahrt die Voraussetzung für die Ernte schafft, ist der Nutzen des Fahrenden für die Gemeinschaft jedoch nicht offensichtlich und zudem unsicher. Eine solche Art der Fortbewegung erfordert zwei Möglichkeitsräume:
Reisebilder | Absichten ⇒ | 1 Aufbruch Bindungen lösen | ⇒ | 2 Hinfahrt als weg-von & hin-zu | ⇒ | 3 Ankunft |
---|---|---|---|---|---|---|
⇑ Aufnahme | Wendepunkt ⇓ | |||||
Weltbild | ⇐ Folgen | 6 Heimkehr | ⇐ | 5 Heimfahrt als Dazwischen | ⇐ | 4 Umkehr |
Raumvorstellungen | befriedeter Raum | Zwischenraum | Entscheidungsraum |
Die Fahrt ist eine gemeinschaftlich anerkannte Methode, die ein technisches Sachsystem verwendet (Boot, Fuhrwerk). Dazu findet sich altnordisches fǫr und altenglisches faru, beide aus der Wurzel *pór-o- < *per- etwas Begrenztes 'durchdringen' bzw. 'übersetzen' (mit dem Boot). Griechisches póros πόρος bezeichnet eine Furt ebenso wie einen bestimmten Seeweg. Davon abgeleitet ist peráō περάω 'durchdringen, hinüber, hindurch' (engl. to penetrate, franz. traverse), also von einer Seite zur anderen gelangen.
Das Unterwegs-sein endet weder am Ziel noch bei der Heimkehr - es hat den Charakter eines anhaltenden Prozesses, der in allen Beteiligten und ihren Gemeinschaften nachwirkt.
Diesem Prozess und seinen Phasen eignet eine gewisse Dauer, sonst wäre der Gang zum Briefkasten eine Fahrt. Da das natürliche Zeitgefühl des Menschen durch den Rhythmus von Tagen geprägt ist, erfordern diese Phasen für die kleinste vollständige Reise rund eine Woche. (Ähnlich die Fremdenverkehrswirtschaft - sie setzt für Reisen eine Dauer von mindestens fünf Tagen zwischen Aufbruch und Heimkehr voraus.)
Die indogermanischen Wurzeln *er-, *or-, *ir- bedeuten ‘sich in Bewegung setzen, erregen, in die Höhe bringen (auch von Bewegung nach abwärts)’ 5) und verweisen auf einen kraftvollen Vorgang (eine Reise unternehmen) mit dem Ziel, etwas mitzubringen. Substantiviert wurde daraus die gemeinschaftliche Unternehmung. Dem entspricht im Englischen exploration als ein process of investigating hin zu einem lohnenswerten Ziel: Reichtum, Gesundheit, Informationen, Kolonisation … :
»Die Reise ist nämlich ein Ortswechsel, der von einem dazu geeigneten Menschen unternommen wird aus der Begierde und dem Wunsch, auswärtige Orte zu durchwandern, zu besehen und kennenzulernen, um dort irgendein Gut zu erwerben, das entweder dem Vaterland und den Freunden oder uns selbst nützlich sein könnte«, Samuel Zwicker
1577 6)
Die aggressive Bedeutung ist im englischen rise on noch lebendig, im Sinne von Segel setzen, kämpfen, plündern, rauben. Dieselbe Bedeutung hat das griechische Ταξείδιον (latinisiert tassedium), ursprünglich als eine expeditio bellica ‚kriegerische Reise‘ gedeutet 7), wobei die Aufgabe des Anführers ‚procertari‘ genannt wird, also ‚sich auf einen Kampf einlassen‘. Das zugrunde liegende Verb ταξείδεὑειν kann auch mit navigare (‚segeln‘) übersetzt werden. Im 11. Jahrhundert schließlich bezeichnet das Wort Taxedion im Venezianischen eine bestimmte Art von Geschäftsunternehmungen (‚Collegantia‘) 8). Gewinnbringendes Reisen ist das Gegenteil von ziellosem Wandern, es schafft Werte und bringt Nutzen (lat. utilitas > frz. profit).
Beispiele: Heidenreise, Preußenreise
Phasen: Sich erheben, Abreise, Anreise, Begegnung und Auseinandersetzung, Heimreise.
Handlung | Bewegung | Fortbewegung | Rückkehr | |||
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motion | locomotion | return, retour | ||||
Unterwegs-sein | Gang | Fahrt | Reise | |||
Mittel | Weg | Boot Fuhrwerk | Ausrüstung Waffen, Waren |
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Ziel | am Ende des Weges | neue Wege suchen | Erfolg heimbringen | |||
Raumvorstellung | Landgang, Waldgang Weidegang | Tal-, Berg-, Fluss- See-, Meerfahrt | Seereise Weltreise |
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Orientierung | Irrweg, Irrgang | Irrfahrt | — | |||
Zweck | Bitt-, Bußgang, Erkundungsgang, Opfer-, Waffengang | Heerfahrt Kaperfahrt Kundfahrt | Bildungsreise Geschäftsreise Kriegs-, Heiden-, Preußenreise |
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Figuren | Botengang | Brautfahrt Pilgerfahrt | Heldenreise | |||
übertragen | Übergang | Himmelfahrt Höllenfahrt | Lebensreise Traumreise, Zeitreise |
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sinnbefreit | Müßiggang Wallern, Wandern | unendliche Fahrt | Reise ohne Wiederkehr | |||
ie. Wurzel | *g̑hē-, *g̑hēi- | *per- | *er-, *or-, *r- | |||
Vorstellung | leer sein, fehlen, verlassen | hinüberführen, -bringen, -kommen, übersetzen, durchdringen | sich in Bewegung setzen, erregen, auf-/absteigen |
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Quelle DWDS 9) | gehen | fahren | reisen |
Die Unterschiede zeigen sich bei aller Unschärfe des heutigen Sprachgebrauchs in solchen Zweckbegriffen, in denen sich das Letztglied gegen einen Austausch sträubt, wo -gang, -fahrt, -reise also eine spezifische und ursprüngliche Bedeutung speichern. Der „Gang nach Canossa“ von 1077 war keine „Fahrt“, weil König Heinrich IV.
auf erleichternde Hilfsmittel verzichtete und auch keine neuen Wege suchte. Er war auch keine Reise, weil ihm der aggressive Aspekt fehlte, der damals mit dem Reisen als Aufstehen für eine kriegerische Unternehmung verbunden wurde, denn der König kam als Büßer und Bittsteller und bat Papst Gregor VII.
den Kirchenbann aufzuheben.
Fahrt und Reise drücken im germanischen Sprachraum besondere Formen des Unterwegs-Seins aus, die sich nicht Eins-zu-Eins in andere Sprachräume übersetzen lassen.
Die Besonderheit der Konzepte von Gang, Fahrt, Reise zeigt sich auch im Vergleich mit anderen Sprachräumen, deren Konzepte meist unterschiedslos mit 'Reise' übersetzt werden, jedoch spezifische Eigenheiten des jeweiligen 'Unterwegs-Seins' aufweisen.
Die vom lateinischen viaticus abgeleiteten Bezeichnungen sind strukturell vergleichbar mit dem Slavischen 10) und dem Türkischen:
Sprachraum | Weg | + … | > abgeleitet 'Unterwegs-Sein' |
---|---|---|---|
romanisch | via- | -āticus 'zum Weg gehörig | viaticum > viaggio, viaje, viagem, voyage |
slawisch | put- | -šéstvije 'Prozession' | puteshestviye, podorožnij, podróżny |
türkisch | yol- | -cu 'zum Weg gehörige Gruppe' | yolculuk |
Im semitischen Sprachraum fehlt dagegen die Vorstellung vom Weg.
In den Bantusprachen fehlt ebenfalls die Vorstellung des Weges, Unterwegs-Sein wird ausschließlich von 'Gehen' abgeleitet. 12) Vereinzelt findet sich die Übertragung auf 'jemanden besuchen' und 'es wird beginnen' (ita mwanza, Ng’hwele).
Baalla, Hamid
Баликоева, М. И.
, Ф. С. Дзуцева
Paolo Bianchi
Paolo Bianchi
(Hg.): Ankommen - Hiersein - Weggehen. Köln 1997: Kunstforum International 136.Winfried Breidbach
Bragantini-Maillard, Nathalie
Xavier Dekeyser
Doiron, Normand
Гасанова, Эльнара Эльмановна
Hamiti, Vjosa
Hupfeld, D. H.
Huber, Judith
Rothwell, William
Масленникова, Юлия Тимофеевна
Шевченко, Станислав Викторович
Schutz, A. H.
Wuthenow, Ralph Rainer
Zlatev, Jordan
, Peerapat Yangklang
Eleftheria Messimeri
Du Cange
: Glossarium ad scriptores mediae et infimae Graecitatis
Stefania Gialdroni
, Albrecht Cordes
, Serge Dauchy
, Dave De ruysscher
, Heikki Pihlajamäki
(Hg.)Macintosh, A. A.
Ann Jeffers
Y. Dan.