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wiki:reiseliteratur

Reiseliteratur

Die Formen der Reiseliteratur treten ihrer Zeit entsprechend mehr oder weniger in den Vordergrund und werden zeittypisch geformt, siehe Reisegenerationen.

Audivi

Wenn jemand eine Reise tut,
So kann er was erzählen;
Drum nahm ich meinen Stock und Hut
Und tät das Reisen wählen.
Matthias Claudius 1740-1815
Urians Reise um die Welt

»Ich habe gehört« - Damit beginnen viele mittelalterliche Texte in Chroniken oder anderen Aufschriften. Die Reiseliteratur entstand, als jemand begann die Geschichten aufzuschreiben, die man sich abends am Feuer erzählte. Geschichten zu erzählen und zu hören ist bis heute eines der Hauptmotive, dass sich Reisende treffen, unterwegs sowieso, aber auch zwischen den Reisen. Umgekehrt bildet Reiseliteratur heute eine wesentliche Quelle für mündliche Erzählungen 1).

  • Machtvoll und weitreichend wirkten bis heute die großen Epen Homers. Die sagenhaften Kämpfe und abenteuerlichen Irrfahrten des Odysseus bilden die literarischen Wurzeln europäischer Traditionen und lieferten seit 800 vor Christus das Vorbild für das Genre der Heldenlieder, den Topos der Heldenreise und die nordischen Sagas wie etwa den isländischen Riddarasögur.
  • Die mittelhochdeutschen Versepen ranken sich ab 1200 nach Christus um Aventiuren. Ritterlich-höfische Herren kämpfen um Länder, Schätze, Frauen und immer um die Ehre. Die Idee des Abenteuers und die Gattung des Romans wäre ohne sie kaum denkbar.
  • Fussell, Paul
    The Norton Book of Travel. 832 S., New York: Norton, 1987.
  • → Literaturliste zum Abenteuer

Periëgetes

Der altgriechische Begriff περιηγητής bezeichnet den `Herumführer´, der dem Fremden etwas zeigt und erklärt. Verschriftlicht entstand daraus ab dem 3. Jahrhundert BC die literarische Gattung der Periegesis, aus heutiger Sicht eine Beschreibung der Kultur eines Ortes, einer Region oder eines Landes wie etwa Pausanias `Griechenland´ 2).

  • Das reisetechnische Know-How bedarf mindestens bei der Ankunft im Reiseland, bei der ersten Begegnung mit fremden Völkern grundlegender Informationen über Länder & Völker. Was darüber hinaus geht, findet sich in der volks- und landeskundlichen Fachliteratur. Bibliographien fassen den Bestand länderkundlicher oder reisegeschichtlicher Literatur zusammen.

Periplus und Itinerar

Die wahrhaftigste Form der Reiseliteratur entbehrt jeder persönlichen Note, weil sie in ihrer einfachsten Form nichts anderes bietet als eine Liste von Orten: als Periplus auf dem Wasser, als Itinerar auf dem Land. Diese Reihenfolge bestimmt die Reiseroute. Darin liegt jedoch bereits eine Auswahl, deren Kriterien nicht offen dargelegt sind: Warum diese Route und keine andere? In ein über Jahrhunderte gewachsenes Itinerar sind immerhin die Erfahrungen zahlreicher Reisender eingeflossen, so dass man annehmen kann, dass die Kriterien praktischer Reiseerfahrung entsprechen, also mit Tagesetappen, Versorgungsmöglichkeiten, Unterkünfte, sicherer Wegführung sowohl Orientierung bieten als auch eine Reiseplanung vorgeben.

  • Den größten Marktanteil hat heute das beratende Reisebuch: der Reiseführer in allen seinen Formen mit Kartenwerken, als reisetechnischer Tipgeber, Sprachführer … Diesen objektivierten Reisebüchern ist das subjektive individuelle Erleben genremäßig ausgetrieben.
  • Susanne Müller
    Die Welt des Baedeker
    Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830 - 1945
    354 S. Frankfurt am Main 2012: Campus. Inhalt
  • Ingrid Backes u.a.
    Wegweiser in die Fremde: Reiseführer, Reiseratgeber, Reisezeitschriften
    Bensberger Protokolle Nr.57. Bergisch Gladbach: Thomas-Morus-Akademie Bensberg 1990.

Hodoeporicon

Viele Jahrhunderte überwog der Versuch objektiv-nützliche und wertvolle Informationen schriftlich zu speichern, die Reise also als Werkzeug des Wissenstransfers (Translatio studii) zu nutzen. Im Mittelalter wird in den Hodoeporica erstmals der Reisende als Individuum erkennbar, mit seinen Erlebnissen, Empfindungen und seiner persönlichen Schilderung. Die Gattung der Lebensreise-Autobiographien findet hier ihre Wurzeln. Hodoeporica ergänzen das routenorientierte Itinerar durch ein interessegeleitetes Ziel, denn das altgriechische ὁδοιπόρικος hodoipórikos besteht aus ὁδός hodos `Weg´ und πορεύομαι poreuomai `Hingehen´, setzt also ein Ziel voraus.

  • Ein Reisetagebuch scheint frisch notierte Erlebnisse wiederzugeben, wäre also noch (fast) aus der Reisesituation niedergeschrieben - aber ist das wirklich so? Intimes wird vor der Publikation gestrichen, kurze Skizzen müssen der Verständlichkeit halber ausgemalt werden und die Recherche gibt den Sachverhalten Tiefe, wo der Augenschein zu flach wäre.
  • Reisebriefe (viaggi) sind vielleicht am authentischsten, weil sie einen persönlichen Adressaten haben, sind aus demselben Grund jedoch auch selektiv 3).
  • Die Ego-Perspektive ermöglicht es, die Zuhörer zu fesseln. Dies zu verschriftlichen und damit zu verbreiten, wie es ab dem 14. Jahrhundert zögerlich zu beobachten ist (154 Reiseberichte zwischen 1334 und 1531, s. Werner Paravicini), erweitert also den Kreis der Adressaten und erhöht damit die Bedeutung des Einzelnen ihnen gegenüber, lässt also einen zunehmenden persönlichen Vorteil vermuten 4).
Ich bin nicht Ich 
Am 29. Dezember 1951 bricht Ernesto Che Guevara mit seinem Freund Alberto Granado 
und dem Hund »Comeback« zu einer Motorradreise durch Südamerika auf.
Sie starten in Buenos Aires, fahren nach Süden, durchqueren den Kontinent und 
erreichen die berühmte Straße »Latinoamericana«.
Im Sommer des nächsten Jahres sind sie wieder zu Hause.
Der dreiundzwanzigjährige Che Guevara hat seine Erlebnisse, Begegnungen
und Eindrücke in einem Tagebuch festgehalten und später ergänzt: 
  »Die Person, die diese Notizen schrieb, starb, 
  als sie ihren Fuß wieder auf argentinischen Boden setzte, 
  und der sie ordnet und an ihnen feilt, >ich<, bin nicht ich; 
  zumindest bin ich nicht mehr dasselbe innere Ich. 
  Dieses ziellose Streifen durch unser riesiges Amerika hat mich stärker verändert, 
  als ich glaubte«, schreibt er.

Apodemik

Ein Ziel mit anderen zu teilen setzt ähnliche Werte und Interessen voraus. »Richtig reisen« bedeutet dann nicht nur die richtige Route zu wählen, sondern in bestimmter Art und Weise unterwegs zu sein. Ab dem 16. Jahrhundert versuchen Apodemiken zum »richtigen« Reisen anzuleiten. An diesem Wertemuster wurden Reiseberichte gemessen.

  • Mit dem Entdecken und Erforschen entwickelt sich der Reisebericht. Damit Taten als Erfolg galten, mußten sie Informationen zurückbringen, diese mußten neu sein, nachvollziehbar und nützlich. Und so steht in deren typischem Reisebericht das Entdeckte im Vordergrund und der Entdecker tritt bescheiden soweit zurück, dass man teils nichts von den Mühen und Strapazen des Reisealltags erfährt. Ein Reisebericht betont den objektiven Wahrheitsgehalt der Schilderung - aber wer wollte das prüfen? Und vor allem: Wer wollte einen auf Faktenhuberei reduzierten Bericht über Fauna & Flora, Geologie & Anthropologie wirklich lesen? Interessanter wird es doch immer dort, wo der Reisende selbst in den Mittelpunkt gerät, wo es also unwissenschaftlich erzählt wird.
  • In den Reiseberichten der späteren Reiseformen wie Grand Tour, Cavalierstour, Junkerfahrt, Gentleman-Tour, spätestens mit der Bildungsreise ist es dann aus mit der Bescheidenheit. Seit das Reisen auf die »Eroberung des Nutzlosen« zielt, dient der Reisebericht nurmehr der effektvollen Entblößung des Ichs und müsste eigentlich Egoricht heißen. Laurence Stern mokiert sich als »empfindsamer Reisender« bereits 1768 darüber 5) und meint:
»Dergestalt kann man den ganzen Zirkel von Reisenden
unter folgende wenige Rubriken bringen:
  Müßige Reisende,
  Neugierige Reisende,
  Lügende Reisende,
  Aufgeblasene Reisende,
  Eitle Reisende,
  Milzsüchtige Reisende.
Dann folgen die Reisenden aus Notwendigkeit:
  Der seiner Sündenschuld wegen Reisende,
  Der unglückliche und unschuldige Reisende,
  Der simple Reisende.
Und ganz zuletzt - wenn Sie’s nicht übelnehmen wollen!
  Der empfindsame Reisende, - womit ich mich selbst meine - 
  der ich gereist bin und nun mich hinsetze, um Rechenschaft davon abzulegen«.

Das Verhältnis von Schreiben & Reisen

Die rein menschliche Einstellung der Italiener ist irgendwie sofort erkennbar. 
Rein kulturpolitisch-geographisch ist die italienische Mentalität typisch südlich: 
der Staat verhält sich dort zur Kirche wie die Einsteinsche Relativitätsphilosophie 
zur Kunstauffassung der zweiten chinesischen Kung-Periode und etwa noch wie 
die Gotik des frühen Mittelalters zu den Fratellinis. 
Ein Symptom, das dem geschulten Reisenden sogleich in allen Straßen auffällt.

Berückend der menschliche Zauber der Landschaft, die man durchfährt: 
Pinien gaukeln im Morgensonnenscheine, Zypressen säuseln, Schmetterlinge ziehen 
fröhlich pfeifend ihre Bahn, die fein geschwungenen Nasen der Kinder laufen 
mit diesen um die Wette, und wenn es regnet, so fühlt auch der Wanderer 
aus dem Norden: so kann es nur im sonnigen Italien regnen! 

So macht sich Kurt Tucholsky 1930 lustig über die Kunst, Reise-Erfahrung in Reise-Ausdrücke zu gießen: Der Reisebericht 6), denn der Reisende bringt sich selbst in ein Dilemma beim Versuch Erlebtes für Andere niederzuschreiben ( → Travel Writing: Schreiben & Lügen ):

  • Ist es Zweck der Reise, zu einem Buch zu werden?
  • Oder ist die Reise Selbstzweck und der Gedanke an ein Buch wird erst später wach?
  • Was hat Priorität: die Reise oder das Buch?
  • Wie verändert die Schreibabsicht die Wahrnehmungsperspektive oder gar die Reiseumstände?

Ist das Geschilderte authentisch, weil es wahrhaftig ausgedrückt wurde, oder ist es authentisch, weil es wirklich erlebt wurde? Kann es überhaupt authentische Reiseerlebnisse geben, wenn vorher feststeht, dass diese veröffentlicht werden sollen? Und wäre dann nicht der Flaneur der ehrlichere Autor, weil er sich absichtslos der Welt öffnet, das Erleben uninteressiert in sich einströmen lässt und auf die Erfahrung pfeift?

  • Der literarisch aufgearbeitete Reisebericht richtet den Blick auch nach innen, reflektiert äußere Erlebnisse an dem, was sie innerlich ausgelöst haben und wagt den Blick hinter die Kulissen des Selbst und hinter die Kulissen des Fremden. Er entdeckt das Fremde in sich selbst und das Vertraute im Fremden. Noch sind die Erlebnisse authentisch, doch erhält die Subjektivität Vorrang gegenüber kalter Objektivität.
  • Der Schritt ist klein zur Reiseerzählung: Die Phantasie wird gesattelt, wahre Erlebnisse geben der Imagination die Sporen, liefern nurmehr den Anlaß zu ausgedehnten Geschichten - „basierend auf eigenen Erlebnissen“. Eng verwandt mit der Reiseerzählung sind Abenteuerroman, Exotischer Roman, Detektivroman, Reiseroman, Science Fiction oder spiritueller Roman, andere unterscheiden Jagdabenteuer, Seeabenteuer, Indianerabenteuer, Kriegsabenteuer, Forscher- und Reiseabenteuer, Detektivabenteuer, technisch-utopische Abenteuer.
  • Unter dem Druck des Marktes sind erfolgreiche Autoren angehalten, jedes Jahr ein neues, authentisches Reisewerk zu schreiben. Das geht natürlich nicht. Mit ziemlicher Sicherheit entstehen dann Biographien oder gar Autobiographien von Reisenden.
  • Aufmerksam registriert der Buchmarkt, welche Themen besonders erfolgreich sind. Gibt es nichts Neues, so werden Anthologien aufgelegt, Sammelbände (gerne in der Vorweihnachtszeit) entstehen: Mit dem Fahrrad um die Welt, Frauen reisen, Buch der Abenteuer usw.
  • Wie die Nachrichten aus der Welt die Wahrnehmung von Welt beeinflussen, schildert kenntnisreich Michael Homberg
    Reporter-Streifzüge.
    Metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt
    1870-1918.
    Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017.
  • Reinhold Bichler
    An den Grenzen zur Phantastik. Antike Fahrtenberichte und ihre Beglaubigungsstrategien.
    S. 237-259 in: Nicola Hömke, Manuel Baumbach (Hg.): Fremde Wirklichkeiten. Literarische Phantastik und antike Literatur. Heidelberg 2006, [= Ges. Schriften Bd. 2, 2008, 173-192]
  • Hentschel, Uwe
    „wo das Reisen zur wahren Reisewuth wurde, Reisebeschreibungen einander jagten, und Reiseleserei so epidemisch ward, als Romane oder Schauspielereien“ oder Die Eroberung des literarischen Marktes durch die Reiseliteratur.
    In: H. Hartmann (Hrsg.): Populäre Literatur – Regionale Distribution – Innerliterarische Wirkung um 1800. Greifswald / Neubrandenburg 1992, S. 146–162.
  • Ken Ewell
    Traveling with Skeptics.
    USA: iUniverse, 2009. ISBN 9781440180767
  • Browne, T., & In Crossley, J.
    Musaeum Clausum, or, Biblotheca abscondita
    Containing some remarkable books, antiquities, pictures, and rarities, of several kinds, scarce or never seen by any man now living.
    In: Tracts 1822 p. [157]-183. online
    Geschrieben zwischen 1674-1682 beschreibt der Text in kurzen Abschnitten Bücher, die es nie gegeben hat, die es aber geben könnte oder sollte, etwa:
    »6. A learned Comment upon the Periplus of Hanno the Carthaginian, or his Navigation upon the Western Coast of Africa, with the several places he landed at; what Colonies he settled, what Ships were scattered from his Fleet near the Æquinoctial Line, which were not afterward heard of, and which probably fell into the Trade Winds, and were carried over into the Coast of America.« Tatsächlich lebte Hanno, der Navigator, im 6. Jahrhundert vor Christus und hinterließ ein Itinerar, das entlang der afrikanischen Westküste führt und heute weitgehend https://www.livius.org/articles/person/hanno-1-the-navigator/hanno-1-the-navigator-2/gedeutet ist, hier als Hörspiel (deutsch).

Erzähltes Abenteuer

»Dabei aber gingen nicht sofort auch die Erzählungen selbst, jene Heldensagen zugrunde, die gleichsam die Seele dieser Völker, ihr Trank und ihre geistige Speise waren. Sie konnten nicht zugrunde gehen, weil diese Völker (wenn mir der Ausdruck erlaubt ist) abenteuerlich dachten und entweder gar nicht oder im Abenteuer lebten. Ein Volk, von wenigen, aber starken Begriffen und Leidenschaften geregt und getrieben, hat wenig Lust zu ordnungsmäßigen, gewöhnlichen, ruhigen Geschäften; es bleibt gegen sie kalt und träge. Dagegen flammet’s auf, wenn ein Abenteuer ruft, wenn wie ein Jagd- und Kriegshorn die Abenteuersage ertönet. In eingepflanzten Trieben, in angebornen Begriffen und Neigungen ging diese Liebe zum Abenteuer auf Geschlechter hinab; der geistliche Stand, in dessen Händen die Bildung der Menschen nach Begriffen der Zeit war, bemächtigte sich dieses Triebes; er fabelte, dichtete, erzählte.
Von Erzählungen fängt alle Kultur roher Völker an; sie lesen nicht, sie vernünfteln nicht gern, aber sie hören und lassen sich erzählen. So Kinder, so alle Stände, die, insonderheit unter freiem Himmel, ein halbmüßiges Leben führen. Wo sie auch leben, Norweger und Araber, Perser und Mogolen, der Gote, Sachse, Frank und Katte des Mittelalters, noch jetzt alle halbmüßige Abenteurer, Krieger, Jäger, Reisende, Pilger haben hierin einerlei Geschmack, einerlei Zeitkürzung Unwissenheit ist die Mutter des Wunderbaren, unternehmende Kühnheit seine Ernährerin, unzählige Sagen seine Nachkommenschaft und ihr großer Mentor der Glaube. Wenn Mönche dergleichen Erzählungen in ihre Chroniken aufnahmen und ihre Legenden selbst darnach schrieben, so taten sie es nicht immer aus Lust zu betrügen. Es war Geschmack und sogar Kreis des Wissens, Denkart der Zeit; eine echte Mönchschronik mußte vom Anfange der Welt anfangen und in bestimmten Zeiträumen durch Fabel und Geschichte der Griechen und Römer (Geschichte und Dichtung auf einem Grunde betrachtet) bis zum Ende der Welt fortgehn; das war der gegebene Umriß. Eben nach den Begebenheiten der Zeit, die allesamt geistliche und weltliche Abenteuer waren, formte sich der Umriß der Erzählung, bildete sich der Ton des Ganzen. Mehr als eine Chronik der mittleren Zeiten ist wie ein zyklisches Gedicht zu lesen.
Wenn aber und wie wird aus diesen vermischten Sagen und Abenteuermärchen so verschiedner Völker in so verschiednen Gegenden und Umständen eine »Ilias,« eine »Odyssee« erwachsen, die allem gleichsam den Kranz raubte und jetzt als Sage der Sagen gelte?«
Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität

Richard Kapuscinski
Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies
Reportagen, Essays, Interviews aus vierzig Jahren
Wolfgang Hörner (Hrsg.), Aus dem Polnischen von Martin Pollack
Berlin: Eichborn 2000. Pappband mit Umschlag: 315 S.

Richard Kapuscinski
Die Welt im Notizbuch
Aus dem Polnischen von Martin Pollack
Frankfurt am Main:Eichborn 2000. Pappband 12x21 cm: 335 S.

1999 wurde Richard Kapuscinski zum Pol­nischen Journalisten des Jahrhunderts gewählt; bei Eichborn erschienen zuvor bereits fünf Titel von ihm, dann noch einmal fünf Titel. Dem Verlag ist ein Erfolgsautor, dem Autor der Erfolg zu gönnen.

Jeder Journalist ist ein Vermittler zwischen der Realität (Was ist wahr?) und dem, was die Leute hören wollen (Anderes wird nicht verkauft). RK bringt dafür ganz besondere Qualitäten mit; auf dem Waschzettel von Eichborn steht »Die Quelle seiner Inspiration ist das Reisen.« 1957 fuhr RK zum ersten Mal nach Afrika, dann ließen ihn der Kontinent und seine Menschen nicht mehr los. Als Korrespon­dent der polnischen Nachrichtenagentur PAP machte er den Mangel an Geld durch Einfühlungsvermögen und Mut mehr als wett. Seine Nachrichten sind geprägt von persönlichen Erfahrungen und dadurch menschlich. Obwohl sein Beruf verlangt, Distanz zu wahren, sucht er die intensive Nähe, Bodenberührung, taucht ein in die örtlichen Verhältnisse, zuckt nicht zurück vor Krankheiten und Tieren, Elend und Schmutz, Entbehrung und Krieg.

Ich kenne keinen anderen Autor, der es geschafft hat, Afrika so richtig zu erfühlen und so genau zu beschreiben. Immer, wenn ich von meinen afrikanischen Begegnungen erzähle, gerate ich ins Stocken, finde keine passenden Begriffe, will auch nicht die alten Klischees wiederholen, auch wenn sie zu passen scheinen. RK hat es geschafft, die Worte zu finden, das Besondere der Menschen, Kulturen, Länder Afrikas liebevoll zu zeigen, ohne den Alltag zu beschönigen oder zu romantisieren. Afrikanisches Fieber ist genau das richtige Buch, eine Afrikareise vor- oder nachzubereiten.

»Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies« zeigt RK nicht nur in Afrika, sondern auch in Polen, Lateinamerika, im Iran, Westeuropa, Amerika und in der Sowjetunion. Und er reflektiert über Heimkehr und Schreiben und Einsamkeit – weshalb eigentölich nicht über das Reisen? Denn hier schreibt wirklich einer, der das Reisen im Blut hat, vielleicht ist es ihm deshalb so selbstverständlich.

Das Metier RKs ist durch den verfügbaren Raum auf Zeitungsseiten geprägt. Ein Essay, ein Reportage mögen mal länger sein, doch seine Kunst ist nicht scheinbare Objektivität des Fotorealismus, sondern das Gestalten durch Weglassen. So füllt sich ein Notizbuch mit sprachlichen Pretiosen: kurzen Einfällen, einer gefälligen Formulierung, Umrissen, Schnappschüssen, … Für deren Schöpfer ist es Fundgrube. Doch damit ein Buch zu füllen? Keine Klammer verbindet diese vielen hundert Schnipsel thematisch, keine Chronologie zeigt Entwicklungen, kein Register erschließt es und so hüpft das Hirn mit verbundenen Augen von Absatz zu Absatz und tastet sich an deren Rändern entlang, planlos.

Nachschlagewerke

allgemein Allgemeine Deutsche Biographie (ADB).
56 Bände. Nachdruck der 1. Auflage. Berlin 1967
Allgemein: Anonyme M. Holzmann,
H. Bohatta
Deutsches Anonymenlexikon 1501-1926.
7 Bde. Weimar 1902-28
Allgemein: Pseudon. dieselben: Deutsches Pseudonymenlexikon.
Reprint Hildesheim 1961
Allgemein: EA Wilpert/Gühring Erstausgaben deutscher Dichtung (WG)
Allgemein: Literatur G. v. Wilpert Lexikon der Weltliteratur (LWL)
Allgemein: Literatur H.Arnold Kritisches Lexikon der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
(KLG)
Allgemein: Literatur Kindlers Literaturlexikon
Allgemein: Literatur W. Kosch Deutsches Literaturlexikon (DLL)
Allgemein: MNE M. Krieg Mehr nicht erschienen.
Ein Verzeichnis unvollendet gebliebener Druckwerke.
2 Tle. Bad Bocklet 1954-58
Nachtrag von O. Seemann, Wien 1991

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1)
Rudolf Schenda: Von Mund zu Ohr.
Bausteine zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa.
Vandenhoek und Ruprecht, Göttingen 1993
2)
Karl Müller
Fragmenta historicorum Graecorum.
Band 1-5, Paris 1841-70: Didot. https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11263757-7
3)
Kollodzeiski, Ulrike
Die Ordnung der Religionen
Die Vermittlung von Okzident und Orient im Reisebericht „Viaggi“ von Pietro Della Valle (1586-1652).
Baden-Baden 2020: Nomos
4)
Gerhard Wolf, Die deutschsprachigen Reiseberichte des Spätmittelalters. In: Peter Brenner (Hrsg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt/Main 1989, S. 85 will » bei der Gebrauchsbindung der Texte anzusetzen, bei den Interessen, die der Autor in einer konkreten gesellschaftlichen Situation gegenüber einem bestimmten Adressatenkreis macht.“
5)
Laurence Sterne: Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien (Original: A Sentimental Journey Through France and Italy, London 1768
6)
[Pseud. Peter Panter] Der Reisebericht Vossische Zeitung, 01.01.1930, Nr. 1
wiki/reiseliteratur.txt · Zuletzt geändert: 2024/03/21 05:45 von norbert

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