Solange das Virus irgendwo ist, wirkt es als wäre es überall. Niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind.
Reisen ja, Kontakte nein oder doch Daheimbleiben?
Also wohin, wenn das Wetter zum Aufbrechen lockt und coronabedingte Schranken sich heben? Gesucht sind Ziele, die niemand nennt und keiner kennt:
Die neue Reiseform heißt CoCoNaT - CoronaConform NaTouren.
Das Fernreisemobiltreffen sammelt dazu Ideen und hilft mit Links zu Listen und Karten beim Planen, siehe:
Deutschland bietet viele Ziele, die leicht übersehen werden und sich nicht aufdrängen und damit eine Chance auf beschauliche Ruhe bieten oder und sogar Einsamkeit: meist naturnahe Freiluftziele oder abgelegene Einrichtungen, die man von außen bestaunen kann. Unter tausenden solcher Ziele finden sich auch solche mit Außengastronomie und Stellplätzen und manche bleiben (hoffentlich) weniger besucht.
Die Stellplatzsuche unterliegt dabei Regeln und Gesetzen, siehe:
Die touristische Infrastruktur muss Abstandsregelungen und Hygienemaßnahmen umsetzen - in Verkehrsmitteln, in der Gastronomie und in Unterkünften - und ist von heut auf morgen vielleicht wieder geschlossen. Wer dann unterwegs sein möchte, muss Autonomie mögen und Autarkie vorbereiten, das Reisemobil als Inselanlage betrachen. Dies ist im ländlichen Umfeld, im Freien und mit manchen Konzepten einfacher umzusetzen:
2020 waren die zehn beliebtesten (nach Anzahl der Google-Suchen) Regionen in Deutschland: Ostsee, Harz, Schwarzwald, Chiemgau, Erzgebirge, Nordsee, Bodensee, Eifel, Allgäu, Rhön. Dort einsame Stellen zu finden, ist also schwieriger als anderswo, aber es gibt sie.
Abenteuer findet man mit dem Prinzip der kleinsten Abzweigung: Man biege zwei, drei mal anders ab als die meisten - und findet sich in Ecken und Vierteln zwischen den Hauptreisewegen. Oder man fährt gleich woanders hin und sucht nach Zielen, die weder im Reiseführer stehen noch als Geheimtipp gelten. Für das Fahrende Volk war der Platz, den man abends erreichte, die »Herberge zur Heimat«; dort übernachtete man bei »Mutter Grün«.
Pia Volk
Das Magazin Curves, Soulful Driving bietet Autowanderern naturnahe Bergstraßen und Roadmovie-Geschichten. Zwei dieser Themenhefte führen nach Deutschland:
Ausgabe 13 erschließt Baden, Schwaben und Bayern;
Ausgabe 9 startet unweit der holländischen Grenze an der Ems-Mündung und führt entlang der deutschen Küstenlinie von Emden über Hamburg bis Rügen, so dass der Blick nach links immer aufs Meer fällt.
Aber wie findet man einsame Orte, wenn alle anderen auch suchen? Das Gegenteil von »Schwarmintelligenz« ist kreatives Schweigen. Der Reiseführer wird so zum Minensuchgerät, denn die darin beschwärmten Geheimtipps sind nun mal umschwärmt. Alternativ zu handeln, dazu verhilft dieses Kreativitätstool:
Rachael Antony, Joël Henry The Lonely Planet Guide to Experimental Travel Melbourne London 2005 40 Techniken, völlig anders zu reisen
So kann man die Würfel über die Richtung entscheiden lassen, muss es jedoch nehmen, wie es kommt:
Sebastian Poliwoda
: Reiseprinzip Zufall. Wandern, wohin der Würfel will SPIEGEL 31.10.2007.
Ulrich Stock
: Eine 2 hieße Quakenbrück. Wohin die Reise geht, wenn der Würfel über Weg und Ziel bestimmt. Die ZEIT 07. März 2002.
Oder man spielt Dart auf Landkarten oder Memory mit Bildern von Sehenswürdigkeiten oder biegt nach einem ausgedachten Zickzackmuster wechselhaft ab ohne zu wissen, wo man ankommen wird.
Julio Cortázar, Carol Dunlop Die Autonauten auf der Kosmobahn Eine zeitlose Reise Paris - Marseille Suhrkamp Frankfurt am Main 1996 Der Schriftsteller (»Wolf«) und die Fotografin (»Bärchen«) wissen, dass sie bald sterben werden und begeben sich auf ihre letzte Reise mit ihrem VW-Bus »Fafnir« durch »Parkingland«. Startend in Paris fahren sie jeden Tag einen der nächsten beiden von insgesamt 65 Autobahnparkplätze an und übernachten dort. Nach vier Wochen erreichen sie Marseille. Reisend, spielend und liebend entsteht so dieses Buch, dessen Erscheinen sie nicht mehr und er nur knapp erlebt.
Oder man lässt kommen, was man liest, nimmt sich ein Beispiel an einem alten Reisebericht und fährt auf dessen Spuren durch Deutschland:
Eric T. Hansen Die Nibelungenreise Mit dem VW-Bus durchs Mittelalter Piper München 2004 Von Lübeck bis Worms, von Aachen bis Quedlinburg, geführt von Helden und Rittern.
Die Wege von Dichtern und Denkern, Malern und Heiligen lassen sich lesend und fahrend neu entdecken:
Theodor Fontane
durch die Mark Brandenburg.Martin Luther
durch das Thüringer Land.Hildegard von Bingen
von Idar-Oberstein nach Bingen am Rhein (140 km).Caspar David Friedrich
, Ludwig Richter
und Christian Andersen
durch die Sächsische Schweiz.Hans Fallada
durch die Mecklenburger Seenplatte.Theodor Storm
durch Schleswig und Holstein.Die meisten solcher literarischen Reiseführer führen allerdings durch Städte und Dörfer, selten ins Umland, siehe die
Abandoned places oder lost places sind wenig gesuchte Reiseziele: Überwucherte Friedhöfe, zerfallene Industrieruinen, die Schlachtfelder unserer Vorfahren wecken eben andere Gefühle als Sommer, Sonne, Strand.
»Urban Explorer« schätzen dagegen eine Ästhetik des Zerfalls; der abgenutzte »Zahn der Zeit« darf nagen, doch soll das zerfallende Objekt in seinem Zerfallsvorgang ungestört zu sehen bleiben. Solche museal geschützten lost places sind legal zu besichtigen, es gibt Führungen und Öffnungszeiten.
Außerhalb geschlossener Ortschaften finden sich Objekte, die etwa wegen zu hoher Sanierungskosten ungenutzt bleiben, also verlassene oder stillgelegte Bahnhöfe, Bunker, Flugplätze, Freizeitparks, Industrieanlagen, Kasernen, Kliniken, Schlösser, Schwimmbäder, Sportstätten, Villen, Werkstätten, Ziegeleien und andere Objekte. Welche Möglichkeiten es für das Betreten gibt und inwieweit es (rechtlich) beschränkt ist, muss jeweils erkundet werden.
Dass man nur sieht, was man weiß, lässt sich so oder so lesen. Nicht-Wissen öffnet immerhin der Imagination Tür und Tor für den schönen Schein.
Xavier de Maistre
(1763 - 1852) musste zu Zeiten der Französischen Revolution sechs Wochen in seinem Zimmer bleiben und flüchtete mit dem Kopf: »Kurz, in der ungeheuren Familie der Menschen, von denen es auf dem Erdenrund wimmelt, ist nicht einer - nein, nicht einer (ich meine von denen, die Zimmer bewohnen), der, wenn er dieses Buch gelesen hat, der neuen Art zu reisen, die ich in die Welt einführe, seine Zustimmung versagen könnte.«
Xavier de Maistre Die Reise um mein Zimmer Die nächtliche Reise um mein Zimmer Aus dem Französischen von Karl Bindel. Reclam Leipzig 1991 (1968 Winkler München)
Dass man in seinem Zimmer die Welt draußen erst aus seinem Kopf löschen muss, um sie danach als Abenteuer neu erforschen zu dürfen, hat sehr unterhaltsam Urs Widmer
geschildert:
Urs Widmer Die Forschungsreise Ein Abenteuerroman Diogenes Zürich 1974
Damit das Reisen nicht nur als ein rasendes Kaleidoskop des Immergleichen erlebt wird, genügt es den Blick zu ändern - doch das ist schwer und wird leichter durch eine andere Sicht bei anderem Licht:
Ulf Peter Hallberg Der Blick des Flaneurs Eine europäische Farbenlehre Aus dem Schwedischen von Klaus-Jürgen Liedtke G. Kiepenheuer Leipzig 1995
»Mit größtmöglichem Gleichmut und doch unaufhaltsam sich fortzubewegen erscheint in [sic] Angesicht des unerbittlichen, tödlichen Lebensschauspiels als höchstes Ziel.«, meinte Peter Rosei
und schrieb:
Peter Rosei Entwurf für eine Welt ohne Menschen Entwurf zu einer Reise ohne Ziel Klett-Cotta Stuttgart 1999 (EA 1975)
Spiegel, FAZ und Zeit rezensierten die beiden Erzählungen und weil sich das Thema durch das gesamte Schaffen Roseis zieht, erschien:
Walter Vogl Basic Rosei Handbuch für das Unterwegssein auf einem literarischen Kontinent Sonderzahl Verlag, Berlin 2000, ISBN-10: 3854491689
Die Liste der bekannten Kränkungen der Menschheit wird länger, seit die Welt der Reisenden 2020 zerbrach:
Florian Siebeck
fragt: Wohin geht die Reise? FAZ Quarterly 28. Januar 2021 und findet in der Saarschleife das Bild des Amazonas, im Eibsee eine bayerische Karibik, im hessischen Roten Moor Außerirdisches.Frank Snowden
in der ZEIT vom 10.02.2021. Die zuständigen Stellen für Sachfragen sind neben dem Robert Koch-Institut RKI: