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»Unterwegs-sein« als soziotechnisches Handlungssystem

»Unterwegs-sein« lässt sich als funktionales System im Sinne von Niklas Luhmanns Allgemeiner Systemtheorie auffassen. Diese stellt das rekursive Verarbeiten von Informationen in einem sich selbst organisierenden System (auch: Autopoiesis, Emergenz, SAE) in den Mittelpunkt.
Die darauf basierende Systemtheorie der Technik von Günter Ropohl 1) beschreibt »soziotechnische Systeme« als zweckorientiertes menschliches Handeln mit technischen Mitteln und sozialen sowie ökonomischen Folgen und Voraussetzungen.

»Technik umfasst die Menge der 
(a) nutzenorientierten, künstlichen, gegenständlichen Gebilde (Artefakte, Sachsysteme),
(b) menschlicher Handlungen und Einrichtungen, in denen Sachsysteme entstehen und 
(c) menschlicher Handlungen, in denen Sachsysteme verwendet werden.«
  • Gerhard Banse
    Auf dem Weg zur kulturellen Technikbewertung.
    Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin 131 (2017), 111–130 Online

»Unterwegs-sein« lässt sich als ein System auffassen, dass dem Einfluss der Antagonisten sich fortbewegen von und ankommen unterliegt.

  • Dabei wird der Raum mehrfach erfahren,
    • zunächst unmittelbar physisch (geographisch), dann
    • als sich verändernde Vorstellung von Welt,
    • als sich entfernen von der vertrauten Gemeinschaft und dem Begegnen mit Fremdem.
  • Voraussetzung dafür ist das Verarbeiten von Information als zielgerichtete Navigation, die unmittelbar zu zielorientierten Handlungen führt.
  • Spezifische Handlungsabläufe lassen sich erkennen als
    • Phasen (zeitliche Dimension)
    • Navigation (räumliche Dimension)
    • Figuren (soziale Dimension)
  • Diese Handlungskreise sind bestimmt durch
    • agierende personale Systeme (Figuren),
    • die sich mit Sach- und Organisationssysteme zum Erreichen ihrer Ziele koppeln und
    • dabei iterativen Handlungsabläufen folgen.

Handlungsabläufe des Unterwegs-seins

Das Unterwegs-sein als Gang, Fahrt oder Reise umfasst Phasen, die aufeinander folgen und zyklisch erscheinen, wenn nur die Ortsveränderung gesehen wird. Reisende verändern jedoch sich und ihre Umgebung (Gemeinschaften und Gesellschaften) durch ihr Tun. Betrachtet man also deren Zustand, so wird aus dem Zyklus eine Spirale mit ständiger Bewegung: »Man steigt nie in denselben Fluss.« 2).

Die Phasen der Fahrt

Reisebilder Absichten
1 Aufbruch
Bindungen lösen
2 Hinfahrt als
weg-von & hin-zu
3 Ankunft
⇑ Aufnahme Wendepunkt ⇓
Weltbild
Folgen
6 Heimkehr 5 Heimfahrt als
Dazwischen
4 Umkehr
Raumvorstellungen befriedeter Raum Zwischenraum Entscheidungsraum

Das Unterwegs-sein endet also weder am Ziel noch bei der Heimkehr - es hat den Charakter eines anhaltenden Prozesses, der in allen Beteiligten und ihren Gemeinschaften nachwirkt.
Diesem Prozess und seinen Phasen eignet eine gewisse Dauer, sonst wäre der Gang zum Briefkasten eine Fahrt. Da das natürliche Zeitgefühl des Menschen durch den Rhythmus von Tagen geprägt ist, erfordern diese Phasen für die kleinste vollständige Reise rund eine Woche. (Ähnlich die Fremdenverkehrswirtschaft - sie setzt für Reisen eine Dauer von mindestens fünf Tagen zwischen Aufbruch und Heimkehr voraus.)

Die Begrifflichkeit (Fahrt, Kehre, Aufbruch) wurzelt in der Tätigkeit des Ackerbauern und seiner (kleinen) Fahrt zum Acker. Das Aufbrechen der Brache setzt sich mit der Tätigkeit des Pflügens zwischen den Ackergewänden fort als einer gleichbleibenden Folge sich wiederholender Tätigkeiten: in der Furche gehen bis zum Rain (Gewände) und wenden mit Kehr und Gegenkehr. Diese Tätigkeit war überlebenswichtig für die Gemeinschaft.

Die »Große Fahrt« spiegelt die Phasen der kleinen Fahrt: die Furche wird zum Weg, das Gehen zum Gang, die Wendepunkte zu Umkehr und Heimkehr. Während die kleine Fahrt im vertrauten, befriedeten Raum stattfindet, verlangt die Große Fahrt nach einem Übergang hinaus in den Zwischenraum.
Während der Landmann mit seiner kleinen Fahrt die Voraussetzung für die Ernte schafft, ist der Nutzen des Fahrenden für die Gemeinschaft jedoch nicht offensichtlich und zudem unsicher. Eine solche Art der Fortbewegung erfordert zwei Möglichkeitsräume:

  • für den Einzelnen einen Möglichkeitssinn, der stärker ist als das Zugehörigkeitsgefühl;
  • gemeinschaftlich die Übereinkunft, den Einzelnen von der Verantwortung seiner Bindungen zu befreien, ihm also 'Urlaub' zu gewähren.

Andere Formen des Unterwegs-seins und ihre Phasen

Im deutschsprachigen Raum ist die Fahrt eine von mehreren Perspektiven, wie das Unterwegs-sein beschrieben werden kann. Breidbach 3) fand 358 verschiedene Bezeichnungen für Fortbewegung (mehr siehe dort) in den ältesten Quellen der sieben altgermanischen Sprachen 4) und reduzierte diese auf 21 Stämme für das `sich-fortbewegen´ des Menschen. Von diesen ist *faran die produktivste, etwa in Fahrt, Fahrzeug, Gefahr, Gefährte, fertig u.a. Der jüngste Stamm *reisa wurde schließlich zum Oberbegriff. Da jeder dieser Stämme von einem anderen Verb ausgeht, enthalten sie auch andere Bedeutungen, welche zum Zeitpunkt ihrer Entstehung als etwas Anderes für das Unterwegs-sein, zu ihrer Zeit Neues wahrgenommen wurden:

  • Der Gang und der Weg verschmelzen zu einer untrennbaren Einheit, wobei sowohl Gang als auch Weg als Mittel dienen, während der Weg zielführend und so weit auch bekannt ist. Dies ist das einfachstmögliche Handlungssystem zum Unterwegs-sein.
  • Die Fahrt erhält neue Bedeutungen durch
    • das Ziel im Unbekannten, ist also damit auch von unbestimmter Dauer;
    • erweiterte Mittel (Sachsysteme), also etwa ein Boot oder ein Fuhrwerk.
  • Die Reise erhält neue Bedeutungen durch
    • die gemeinschaftliche Planung und Durchführung (Unternehmung > Organiationssystem)
    • das Ziel, etwas zu erringen (Raub oder Handel).

Die Phasen des Ganges

Die Vorstellung vom Unterwegs-sein als Gang ist älter als die der Fahrt (aengl. gang < anord. gangr, ahd. gang, got. gaggan, IE *ĝhengh-, Sanskrit jangha 'Fuß' und jáṁhas- 'Schritt') und zeigt zahlreiche germanische Ableitungen. In den ältesten Belegen gehen die Vorstellungen von Gang und Weg ineinander über, sowohl im Deutschen 5) als auch im Griechischen 6). Der Gang wurde so wie der Weg als Mittel zum Ziel verstanden, wobei der Weg zielführend ist. Im Unterschied zur Fahrt ist der Gang an keine Erlaubnis gebunden und erscheint vielmehr als eine (selbstauferlegte) Pflicht (eines Einzelnen) zur mühsamen Erfüllung einer Aufgabe und endet damit, bezieht sich also nicht auf den Rückweg.
Beispiele: Gang nach Canossa, Spaziergang nach Syracus.
Phasen: Ausgang, Durchgang/Übergang, Eingang, Aufgabe erfüllen, Rückweg.

Die Phasen der Reise

Die indogermanischen Wurzeln *er-, *or-, *ir- bedeuten ‘sich in Bewegung setzen, erregen, in die Höhe bringen (auch von Bewegung nach abwärts)’ 7) und verweisen auf einen kraftvollen Vorgang (eine Reise unternehmen). Substantiviert wurde daraus die gemeinschaftliche Unternehmung.
Beispiele: Heidenreise, Preußenreise
Phasen: Sich erheben, Abreise, Anreise, Begegnung und Auseinandersetzung, Heimreise.

Handlungskreis-Subsystem: Der Alltag unterwegs

Vorbereitung
Transport «« »» Fortbewegung Ruhe/Rast «« »» Erholung (Ausspann)
Austausch/Transfer «« »» Begegnung Rückzug (Cocooning) «« »» Sicherheit

Das Symbol «« »» soll anzeigen, dass dieses Bedürfnis nur in intensiver Kommunikation in der 'fremden' Umgebung befriedigt werden kann (Kommunikation zwischen Mensch und Kultur).

Handlungskreis-Subsystem: Navigation

Die Navigation (Kommunikation zwischen Mensch und Natur) erscheint als grundlegende Methode immer gleicher Schritte, die je nach Zeiten und Randbedingungen unterschiedlichste Sachsysteme und Organisationssysteme verwendet:

Zielsetzung
Fortbewegung Raumvorstellungen
Positionsbestimmung Orientierung
Routenplanung Korrektur
Wegfindung Monitoring
Ziel

Struktur der Subsysteme

Ziel Organisationssystem Sachsysteme Personale Systeme
Vorbereitung Informationen
Ausrüstung
Geld
Kartographie
Reiseliteratur
Reisegepäck Kundige
Begleiter
Fortbewegung Transport Verkehrssysteme
Wegenetze
Fuhrwerke Träger & Führer
Begegnung Austausch Kommunikation & Sprachen
Handel & Geschenke
Zeichen & Schrift,
Geld & Digitaltechnik
Gast & Fremder,

Gefährten,
Dolmetscher
Legitimation Grenzen, Ämter Dokumente Beamte & Polizei
Rückzug Sicherheit Lager, Herberge Zelt & Zimmer Wächter
Ruhezustand Erholung Hygiene, Schlafen & Ruhen
Wärme, Essen & Trinken
Reinigen & Reparieren
Nahrung & Lagerfeuer
Wasser & Toiletten
Dienstleister

Zielsystem: Die Frage nach Sinn und Zweck

Zielsetzung, also Wahl eines Zielortes oder einer Richtung mit unbekanntem Ziel in der Welt oder eine Aufgabe bis hin zum Ende der Welt, siehe auch die Liste von Orten im Rahmen der jeweils vorhandenen Raumvorstellungen im Spektrum zwischen Leere und dem Neuem, angetrieben vom Unterwegs-sein.

Das soziotechnische Handlungssystem des »Unterwegs-sein« wird erklärbar durch das Zielsystem, in das es eingebettet ist, also durch die Interessen aller daran Beteiligten, durch den legitimen Aufbruch der Fahrenden, deren Handlungsfreiheiten und deren Wertschätzung durch die (immobile) Gemeinschaft. Diese Interessen sind geprägt durch das Weltbild der Gemeinschaft und durch das Reisebild der Fahrenden. Vorstellungen und Notwendigkeiten ergeben Muster meist legitimierter Fahrten wie beispielsweise:

Primärziel Sachsystem Figur Organisationssystem
Sinnsuche Pilgerstab
Krummstab
Pilger
Wandermönche
Peripatetiker
peregrinatio
Mission
Suche nach Heimat Exilierte
Auswanderer
altes Wissen
tradieren
Rednerstab Wanderpoeten,
Rhapsoden
Kult
neues Wissen
erkunden
Meßstab, -seil
Hodometer
Wegzeichen & Aufzeichnung
Kundschafter
Bematisten,
(Agri)mensores
Kartographie
Vermessung
Nachrichten
austauschen
Botenstab Boten
Gesandte
Botschaft
Sendung
Waren herstellen Rohstoffe
Werkzeug
Wanderschmiede
Wandergesellen
Handwerk,
Walz
Waren rauben Beute (Plunder)
Waffen
Reisige Krieg
Waren austauschen Waren
Transport- & Tragetechnik
Fahrende Händler Handel, Märkte,
Verkehr, Netzwerke

Bei allen Unterschieden der Interessen macht der Weg alle Figuren zu Weggenossen und Kundigen, die gleichermaßen vorhandene Sachsysteme und Organisationssysteme für Fortbewegung und Transport verwenden.
Unterschiede lassen sich äußerlich erkennen an der Art der Kleidung sowie in in der besonderen Legitimation des Unterwegs-seins der Stabträger. So diente die Kopfbedeckung als Distinktionsmerkmal (engl. dresscode, lat. narratio per vestimentum): breitkrempiger Pilgerhut (petasos), krempenlose Filzkappe (pilos), kapuzenartige Gugel mit Nacken- und Schulterteil, spitzer Kapuzenmantel (cucullatus), gehörnter Judenhut (pileum cornutum) 8) und andere 9).

Bedingungen und Folgen: Das Bild der Reise

Erst nach der Heimkehr zeigt sich die Wertschätzung der Gemeinschaft für den Fahrenden durch seine soziale Integration. Seine Autonomie, die er unterwegs bewiesen hat, muss er nun bereit sein aufzugeben 10). Sein Reisebild wird in das herrschende Weltbild assimiliert und dabei verformt:

Reisende Herkunftsgesellschaft
Wunschbilder

Die erlebte Reise

Die erinnerte Reise
Die akademische Reise
Kategorienbildung:
Abenteuer-, Bildungsreise,
Grand Tour etc.
Bilder, Tagebuch, Sammlungen Ausstellungen, Tagungen, Fachliteratur
↑ ↓
Die erzählte Reise Die Reise des Publikums
Imagination und Anschauung
Figuren und Stereotypen
Vortrag, Reisebericht Ausstellungen, Massenmedien

Der Wiedereintritt in die Gemeinschaft ist mit einem Rollenwechsel verbunden, siehe dazu unten den Abschnitt Personale Sachsysteme: Die Frage mit Wem?

Organisationssysteme: Die Frage nach dem Wie

Wer allein unterwegs ist, muss autonom handeln und autark sein, anschaulich praktizieren dies beispielsweise Bergsteiger, Einhandsegler, Extremreisende.

Aus Bedürfnissen (etwa den Weg zu finden), leiten sich Funktionen ab (führen, leiten), die mehr oder weniger durch externe Systeme substituiert werden können. Verschiedene Rahmenbedingungen ergeben unterschiedliche Lösungen: Führer, Karten, Reiseführer, Hinweise (Zeichen, Schilder), digitale Leitsysteme.

Substitution und Funktionserweiterung

Dadurch entsteht ein Handlungsspektrum zwischen völliger Autonomie und Autarkie einerseits und dem gedankenlosen Befolgen von Anweisungen andererseits. Als Kriterien wirken dabei Bequemlichkeit, die Grenzen eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten (etwa Kartenlesen), Kosten, Aufwand. Substitution ist jedoch in der Regel mit einer Funktionserweiterung verbunden, so dass die Auswahl eines geeigneten Systems insbesondere für Reisende nicht durch Immermehrismus bestimmt sein kann, sondern vielmehr durch Einfachheit. Das führt zuerst zu mobilen Insellösungen und erst später zu stationären Funktionsträgern im Rahmen von räumlich ausgedehnten Systemen, beispielsweise:

Funktionen Substitution durch
Begleiter Nutztiere Sachsysteme Makrosysteme
den Weg finden Führer (Hund) Steinmann
> Reiseführer, Karten
Navigationssystem
Lasten tragen Träger Lasttiere Zugtiere & Fuhrwerke Transportsystem
Bootsführer Flöße & Boote dito
Gefahren abwehren Leitsleute Hund Stab, Stein > Waffen Geleitswesen
sicher ruhen Wächter Hund Versteck, Höhle > Herberge Beherbergungsgewerbe
schnell sein Reiter Reittiere Fahrzeuge > Flugzeuge Verkehrssystem

Beispiele

Boten haben das primäre Ziel, eine Nachricht zuverlässig und möglichst schnell an ein bestimmtes Ziel zu bringen. Diese Fokussierung erfordert es mindestens für Fernboten, möglichst viele Funktionen zu substituieren, die sein Primärziel beeinträchtigen: den Weg zu finden, Nahrung und Wasser zu erhalten, eine geschützte Bleibe für die Nacht zu haben usw., verlangt also ein Beförderungssystem mit stationären Lösungen.

Fahrende Händler haben das primäre Ziel, möglichst viele Waren sicher an ein bestimmtes Ziel zu bringen. Primär substituiert werden dazu die Funktionen 'Lasten tragen' und 'Sicherheit'. Dies gelingt am einfachsten durch das Bilden großer Gesellschaften (Karawane, Hansen) mit Frachtkapazitäten (Kamele, Ochsen, Boote), jedoch auf Kosten der Geschwindigkeit.

Organisationssysteme zur Sicherung der Mobilität

Organisationssysteme zur Sicherung der Mobilität sind durch ihre Zielsetzung und ihren Funktionsumfang (s.o.) charakterisiert, beispielsweise

  • Beförderungssysteme für Nachrichten, die durch Boten transportiert werden, sind historisch top-down geschaffen worden mit dem Ziel der Kontrolle und Erhaltung der Macht.
  • Fernhandelsnetzwerke für überregionalen oder transkontinentalen Warentransport sind historisch genossenschaftlich entstanden, also durch Kollaboration mit dem Ziel, den Aufwand und das Risiko für Einzelne zu senken.
  • Organisationssysteme spiritueller Gemeinschaften für Pilger, Wandermönche, clerici vagi, Scholaren, die der Verbreitung des Glaubens dienten wurden institutionell gefördert, z.B. durch Pilgerhospize, Hospitäler, Xenodochien, Anforderungen an Klöster.
  • Die Walz für Handwerker, die zum einen der handwerklichen Ausbildung diente und zum anderen die soziale Eignung als Voraussetzung für die Meisterschaft auf die Probe stellte.

In der Literatur wird meist nicht unterschieden zwischen Wegenetzen und Organisationssystemen. Wegenetze sind eine notwendige Voraussetzung für unterschiedliche Organisationssysteme, jedoch nicht hinreichend. Erste Wegenetze entstehen durch Gebrauch (Trampelpfade), natürliche Übergänge (Pässe, Wasserscheiden) und Durchgänge (Furten, Lichtungen) sowie wiederkehrende Ziele einzelner Nutzer. Daraus können Systeme entweder

  • bottom-up wachsen, wo sich Interessen verbinden oder
  • top-down geschaffen werden, wo dies herrschaftlich gewollt ist.

Erst durch zusätzliche Komponenten zur Versorgung und Sicherheit lassen sich spezifisch nutzbare Organisationssysteme entwickeln: Gesellenherbergen für die Walz, Pilgerhospize auf dem Weg zum Pilgerziel, Klöster für Visitationen, Pfalzen für die Reichsverwaltung.

Reiserelevante Organisationssysteme

Exemplarisch deutet das folgende Raster ansatzweise an, wie Organisationssysteme analysiert werden können.

Institution Stoff Energie Information
Mikrosysteme
Führer Stab, Licht spuren Wegfindung
Träger Reisegepäck Nahrung Lastenorganisation
Tierführer Lasten Futter Tierhaltung
Fuhrmann Fuhrwerk Zugtiere Tierhaltung
Fuhrwerktechnik
Fahrer Wagen Treibstoff Steuerung
Fahrzeugtechnik
Fährmann Fähre, Boot übersetzen Anlegestellen,
Strömung, Untiefen
Dolmetscher Wörterbuch übersetzen Sprachen
Weidmann
Waldläufer
Waffen, Fallen Nahrung Jagd
Mesosysteme
Herbergen
Rastplätze
Werkstätten
Makrosysteme
Wege- & Straßennetz Weg, Straße Räumen, Herstellen Verkehrsregeln
Verkehr Verkehrstechnik Treibstoffversorgung Know-How
Versicherungen
(ADAC, Geleitswesen)
Schutzbrief Normen
Handel Warenstrom Transport Markt
Orientierung Steinmann
Wegweiser
Verirren Kartographie

Sachsysteme: Die Frage nach dem Mittel

Sachsysteme sind bestimmt durch ihren Funktionsumfang und ihre Wirkung auf Stoff, Energie und Information.

Stoff, Energie, Information

Sachsysteme sind nicht einfach vorhanden, sondern müssen geschaffen werden, werden also im Entstehungszusammenhang zum Ziel des Handelns.
Im Verwendungszusammenhang sind sie dagegen ein Mittel des Handelns.
Ein Ding ist das kleinstmögliche Element im Sachsystem. Ein Sachsystem funktioniert, wenn die Dinge gut laufen, wenn also die Eigenschaften des Sachsystems den Anforderungen entsprechen. Die Vielfalt der Reiseformen erschließt sich auch über die verfügbaren Sachsysteme, die formaltechnisch immer aus drei Perspektiven betrachtet werden können:

  1. Stoff
    1. Kleidung zum Schutz vor
      1. Sonne (Tuch, Mütze),
      2. Kälte (Umhang),
      3. Verletzung (Riemensandalen, Stiefel)
  2. Energie
    1. Wärme (Kleidung, Feuer)
    2. Lasten bewegen
  3. Information
    1. Zeichen (z.B. Symbol, Ikon, Index)
    2. (empirisches) Wissen (Know-How)
    3. Können, Fähigkeit (gr. dynamis)
      1. Verständigung: Sprache
Bedürfnis Basis-Sachsystem Basis-Transport Stand der Technik
Tragen Tragestange
Gürtel
Dose, Netz, Korb
Beutel, Sack
Rucksack
Trinken Wasser Lederbeutel
Kalebasse
Trinkbeutel
Nahrung Wegzehrung Proviantbeutel Trekkingnahrung
Wärme, Schutz Kleidung Kapuzenmantel Fleece & Gore-Tex
Feuer Glutdose Feuerzeug
Hygiene Wasser, Kamm
Kaustöckchen
Gürteltasche Bäder
Werkzeuge Stab Gehänge Leatherman
Positionsbestimmung Indischer Kreis
(Stab & Seil)
Kompass, GPS

Beispiel Transport

Sachsysteme unterliegen den Zeitläuften, den regionalen Bedingungen, den individuellen Möglichkeiten wie beispielsweise an den folgenden Teilsystemen im Bereich Transport erkennbar wird:

  1. Transporthilfen, also Behälter wie Flasche, Netz, Korb, Balge, Beutel, Sack, Kiste
  2. Transportmittel, also etwa Schleife, Schlitten, Karre, Wagen
  3. Stabwerkzeuge wie etwa eine Tragstange, Rucksackstangen, eine Schleife aus Stangen
  4. Domestikation von Nutztieren als Lasttier, Reittier, Zugtier

Personale Systeme: Die Frage mit Wem?

Personale Systeme sind bestimmbar durch ihre Funktionen und ihr Zielsystem. Wiederkehrende Funktionen und Ziele manifestieren sich in Figuren. Diese lassen sich im soziotechnischen Handlungsablauf differenzierter betrachten, indem ihre Funktionen nicht nur im Verhältnis zum Reisenden sondern auch zu (Herkunfts-, Ankunfts-)Gemeinschaft und (Reise-)Gesellschaft untersucht werden.
Nachfolgend werden manche Bezeichnungen (z.B. Begleiter) nicht generisch verstanden, sondern spezifisch und idealtypisch:

  • Der Reisende selbst wird als Einzelner im Zwischenraum zum Fremden, sobald er seine Herkunftsgemeinschaft verlässt (→ german. Waergenga).
    • Er kann zum Gast werden, wenn ihn fremde Gemeinschaften vorübergehend aufnehmen. Und er kann wieder in die Herkunftsgemeinschaft aufgenommen werden. Voraussetzungen dazu sind, dass er eine Erlaubnis hatte, die Herkunftsgemeinschaft zu verlassen und dass seine Rolle mit der Heimkehr verbunden ist, etwa als
    • als Pilger
    • Urlauber
  • Davon unterscheidbar sind Figuren, die darauf zielen, die fremde Gemeinschaft zu verändern:
  • Reisende, die nicht heimkehren und ihre Rolle in der Herkunftsgemeinschaft nicht mehr annehmen, werden beispielsweise zu
  • Begleiter stammen aus der Herkunftsgemeinschaft des Reisenden und zeigen zwei Funktionen, indem sie
    • den Reisenden unterwegs unterstützen und
    • ihn unterwegs an die Herkunftsgemeinschaft binden, etwa als Aufpasser und Berater.
  • Gefährten sind Reisende, die vorübergehend gemeinsame Interessen und Ziele teilen, sie bilden eine Reisegesellschaft. Konflikte können entstehen, wenn diese Voraussetzung entfällt. Ihre Funktionen sind:
  • Kundige des Zwischenraums können Reisenden vorübergehend dienen, indem sie für spezielle Funktionen angeworben werden als:
  • Heimatlose sind jene, die in keine ortsfeste Herkunftsgemeinschaft zurückkehren können:
    • Für Verbannte, Vertriebene, Verstoßene gelten Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Als Asylanten oder Exilanten können sie von fremden Gemeinschaften anerkannt und mit besonderem Status aufgenommen werden.
    • Für die Gruppen des Fahrenden Volkes gelten Fristen, während derer sie von sesshaften Gemeinschaften geduldet werden. Sie sind unterwegs im Zwischenraum und können dort eigene mobile Gemeinschaften bilden (etwa Schaustellergruppen).
    • Für Verfolgte außerhalb des Rechts gelten keine Normen (Outlaws). Auch sie können eigene mobile Gemeinschaften bilden (Bushranger, Piraten, Vargr).
  • Spirituell Suchende, die freiwillig außerhalb der Herkunftsgemeinschaft unterwegs sind, sind von Regeln befreit:
    • als Wandermönche ohne Gesellschaft, jedoch angewiesen auf Almosen aus Gemeinschaften;
    • als Eremit zwar ortsfest, doch ohne Gemeinschaft und ohne Gesellschaft im Zwischenraum (Waldeinsamkeit).

Die Aufnahme in eine Gemeinschaft ist mit einem Rollenwechsel verbunden.
Unterwegs ist der Reisende ein Fremder und bestenfalls ein geduldeter Gast auf Zeit. Der Wechsel zwischen den Rollen ist mit einem Vertrauensvorschuss verbunden und den Pflichten des Gastes, seinem sozialen Status dem Gastgeber gegenüber gerecht zu werden. Dazu gehören etwa gegenseitige Gefälligkeiten, gemeinsames Essen, kein Widerspruch …
Heimkehrend fällt der Reisende aus der Rolle des Urlaubers (im alten Wortsinne der, dem erlaubt war, sich zu entfernen) wieder zurück in seine alte Rolle in der Gemeinschaft. Bedingt durch neue Erfahrungen passt die Rolle aber nicht mehr, so dass nun beide Seiten einen neuen Umgang miteinander finden müssen (Rollendistanz).
Vertrauliche Kommunikation gibt es nicht umsonst. Höflichkeit als unpersönliche Handlungsform ist ein Teil der Annäherung. Dagegen wirkt der Verweis auf normerfüllendes Verhalten unverbindlich und distanzvergrößernd.

  • Helmuth Plessner
    Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus.
    145 S. (=EA Bonn 1924), Frankfurt 2019: Suhrkamp.
  • Markus Schroer
    Die Grenzen der Gesellschaften.
    Online S. 50-67 in: Dominik Gerst, Maria Klessmann, Hannes Krämer (Hg.): Grenzforschung. (=Border Studies, 3) 543 S. Inhalt

Literatur

  • Claudia C. Brözel
    Tourismusmanagement im Spannungsfeld von Nachhaltigkeit. Systemtheoretische Grundlagen
    Folienvorträge online: Episode 1 und Episode 2
  • Christina Gansel
    Reisen und die Zeit. Das Konzept Zeit in Kontinuität und Variation. (s. darin: „2 Zeit als analytische Schlüsselkategorie“)
    in: Ansichten zur Ansichtskarte : Textlinguistik, Korpuspragmatik und Kulturanalyse, Bielefeld 2023: transcript Online
  • Egner, H.
    Autopoiesis, Form und Beobachtung. Moderne Systemtheorie und ihr möglicher Beitrag für eine Integration von Human- und Physiogeographie. Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft, Wien. 148 (2006) 92–108.
  • Hard, G.
    Der Raum, einmal systemtheoretisch gesehen.
    Geographica Helvetica 41.2 (1986) 77-83 Online
    Mit Verweis auf:
    • Klüter, Helmut
      Raum als Element sozialer Kommunikation.
      Diss.Geograph. Inst. d. Justus-Liebig-Univ. VI, 192 S. (=Giessener Geographische Schriften) Giessen 1986
    • Werlen, Benno
      Handlungstheoretische Sozialgeographie. Eine Untersuchung der metatheoretischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen in der deutschen Sozialgeographie.
      X, 315 S. Diss. Univ. Freiburg 1986. Schweiz. (=Gesellschaft, Handlung und Raum. 3. A. 462 S. Lit. S. 433-452. Stuttgart 1997: F. Steiner
  • Thomas-Hugo Möllers (Hg.)
    Technik – Kultur – Bildung. Analyse philosophischer Ansätze zum Technikbegriff im Hinblick auf eine Technische Allgemeinbildung.
    XXII, 469 S. Springer Online
  • Andreas Pott
    Orte des Tourismus : eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung.
    326 S. Bibliogr. S. 297-324 Transcript, Bielefeld 2007 Online
    Siehe darin u.a. Methodologische Vorbemerkung, u.a. „Raum als Medium der Wahrnehmung und der Kommunikation“ und die Rolle des Beobachters als ausgeschlossenem Drittem. S. auch Fußnote 15 Primat von Kommunikation oder Handlung
  • Andreas Pott
    Die Raumordnung des Tourismus.
    Soziale Systeme, 17.2 (2011) 255-276. DOI Inhalt)
  • Redepenning, Marc
    Wozu Raum? Systemtheorie, critical geopolitics und raumbezogene Semantiken.
    (= Beiträge zur Regionalen Geographie 62), Leipzig 2006
  • Michael Tomasello
    Die Evolution des Handelns. Von den Eidechsen zum Menschen.
    238 S., Abb.Berlin 2024: Suhrkamp.
    Für den Verlag „Ein neues Standardwerk der Evolutionspsychologie. “ Der Psychologe, Neurologe und Anthropologe skizziert Kategorien des Handelns nach deren zeitlichem Auftreten in der Evolution. Erst Wirbeltiere (Eidechsen) sind in der Lage, zielgerichtet zu handeln. Erst Säugetiere (Eichhörnchen und Ratten) können intentional handeln, erst Menschenaffen (Schimpansen) können rational handeln, erst der Mensch kann gemeinsam mit anderen (sozial-normativ) handeln. Mit der dabei wachsenden Komplexität ist zunehmend Planung, Entscheidungsfindung, Kontrolle und Reflexivität nötig, Denken und Handeln verändern sich.
  • Ziemann, Andreas
    Der Raum der Interaktion – eine systemtheoretische Beschreibung.
    S. 131-153 in: Krämer-Badoni, Thomas / Kuhm, Klaus: Orte des Tourismus. (Hg.): Die Gesellschaft und ihr Raum. Raum als Gegenstand der Soziologie (= Stadt, Raum und Gesellschaft 21), Opladen 2003
1)
Günther Ropohl
Allgemeine Technologie
Eine Systemtheorie der Technik.
3. A. Karlsruhe 2009, online
2)
panta rhei (griech.), Heraklit, 540−480 BC
3)
Winfried Breidbach
Reise - Fahrt - Gang. Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen.
Diss. Universität Köln. Frankfurt am Main 1994: Peter Lang
4)
Gotisch, Altwestnordisch, Altenglisch, Altfriesisch, Altsächsisch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch
5)
„gang, m.“, Abschnitt I.4.e und I.7: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, Online
6)
Eleftheria Messimeri
Wege-Bilder im altgriechischen Denken und ihre logisch-philosophische Relevanz.
Diss. Eberhard-Karls-Universität, Tübingen 1998 (=Epistemata. Reihe Philosophie, 290) 269 S. Würzburg 2001: Königshausen und Neumann. Insbes. S. 18-19
7)
mehr siehe „Reise“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache.
8)
Naomi Lubrich
The Wandering Hat: Iterations of the Medieval Jewish Hat.
Jewish History 29 (2015) 203–244
9)
Kneisel, Jutta
Gesichtsurnen und ihre Kopfbedeckung. Neue Erkenntnisse zum Phänomen der Gesichtsurnen im nordeuropäischen Kontext.
Peregrinationes archaeologicae in Asia et Europa. Joanni Chochorowski dedicatae.
Kraków : Instytut Archeologii Uniwersytetu Jagiellońskiego 2012, S. 19-36.
Abb. 7 (Hutformen) und Abb. 9: Die Korrespondenzanalyse korreliert die Typen der Kopfbedeckungen aus der Situlenkunst mit den dargestellten Tätigkeiten ihrer Träger: Jäger, Krieger, Mitfahrer, Musiker, Pflüger, Reiter, Tierführer, -treiber und andere.
10)
Luhmann, Niklas
Die Wissenschaft der Gesellschaft.
Frankfurt am Main, 1990, S. 289 über Autonomie und Umwelt »Autopoiesis«.
wiki/soziotechnisches_handlungssystem.txt · Zuletzt geändert: 2024/04/07 06:39 von norbert

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